Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 262-263

Verfasst von: Ludwig Steindorff

 

Natalia Diefenbach-Popov: Das russisch-orthodoxe Kirillo-Belozerskij-Kloster zwi­schen Macht und Spiritualität. Frankfurt/Main [usw.]: Lang, 2009. VII, 121 S. = Theion. Studien zur Religionskultur/Studies in Religious Culture, 24. ISBN: 978-3-631-58355-5.

Wie der Leser schnell realisiert, ist der Autorin die gesamte Forschung der vergangenen beiden Jahrzehnte zur Geschichte des Kirill-Belozerskij-Klosters nordwestlich von Vologda fremd. Weder kennt sie die große Zahl von relevanten Aufsätzen aus der 1996 begonnenen Serie „Kirillov. Istoriko-kraevedčeskij al’manach“ noch die Arbeiten von T. I. Šablova, A. I. Alekseev oder vom Rezensenten selbst zu Stiftung und Totengedenken im Kirill-Kloster. Sie ignoriert die Publikation der Inventarbeschreibung von 1601 durch Z. V. Dmitrieva. Die von Donald Ostrowski angestoßenen kontroversen Forschungen zur Frage, ob sich überhaupt eine klare Trennung zwischen stjažateli und nestjažateli, Befürwortern und Gegnern des Landbesitzes, vornehmen lässt, bleiben unerwähnt.

In fünf – erstaunlicherweise nur gezählten, nicht benannten – Kapiteln behandelt die Autorin die historischen Rahmenbedingungen, das Leben des Klostergründers, die Entwicklung der Klostergemeinschaft bis ins 16. Jahrhundert, das Kloster als Wirtschaftszentrum und seine Baugeschichte. Der Leser findet nicht einmal einen Lageplan, er kann sich allerdings, wie ergänzt sei, heutzutage leicht helfen: http://www.kirmuseum.ru/visitor/plan/ (aufgerufen 29.01.2011).

Der Text basiert wohl zur Hälfte auf der Nacherzählung von Angaben bei N. K. Nikol’skij: Kirillo-Belozerskij monastyr’ i ego ustrojstvo, Bd. 1, 1‒2, Spb. 18971910. Von der Kirill-Vita abgesehen, fehlt jeglicher Rückgriff auf Quellen. Da die Autorin die Sachverhalte, auf denen Nikol’skijs Darstellung aufbaut, über das Referierte hinaus nicht kennt, ist die Terminologie unklar: Aus der kormovaja kniga, einem „Speisungsbuch“, wird ein „Schenkungsbuch“ (S. 4). Zazdravnoe i zaupokojnoe pominanie werden als „Bittgebete und Seelenamt“ (S. 73) unterschieden. Vielmehr geht es jedoch um das Nebeneinander von Lebenden- und Totengedenken. Zudem bezieht sich pominanie nicht nur auf das Totengedenken in der Eucharistiefeier, wie durch den westlichen Terminus suggeriert wird, sondern auch auf andere Formen. Die Ausführungen zum Gedenken aus den sinodiki und zu den kormy, übersetzt mit „Andachtsbüchern“ und „Andachtsspeisungen, Speisegabe“ (S. 74), verschleiern eher, als dass sie erklären.

Der Text wimmelt von Verschreibungen, angefangen beim Inhaltsverzeichnis: „Lagophet“ statt „Logofet“, „Heller“ statt „Heiler“ (S. V). Er schwankt zwischen Transliteration und Transkription russischer Termini und Literaturangaben. An vielen Stellen hätte er einer idiomatischen Glättung bedurft, z. B. wenn von den „säkularistischen Bemühungen der Regierung gegen die Klöster“ (S. 107) gesprochen wird. Gemeint ist das – durch die neuere Forschung bezweifelte – Streben der Großfürsten nach Säkularisation von Klosterland. Wo „geistig“ steht, wäre fast stets „geistlich“ angemessen gewesen.

Auf der einen Seite schreibt die Autorin durchaus mit Sympathie für das Phänomen Kloster und Mönchtum. Auf der anderen Seite strebt sie nach Distanz gegenüber ihrem Untersuchungsgegenstand, indem sie sich an Formeln der sowjetischen Historiographie wie auch an Sichtweisen kirchlich geprägter Autoren orientiert, die im klösterlichen Reichtum und in der Nähe zur weltlichen Gewalt eine Gefährdung des geistlichen Anliegens sehen. Geradezu kurios endet das Schlusswort (S. 108) mit dem Syntagma „Gefängnis für politische Gefangene“, als solle der Leser gerade diese (Neben-)Rolle des Klosters im Gedächtnis behalten.

Wer über das Kirill-Belozerskij-Kloster unverbindliche Grundkenntnisse gewinnen möchte, mag aus vorliegender Publikation einen gewissen Nutzen ziehen. Doch als Zusammenfassung des erreichten Forschungsstandes oder als Basis weiterführender Untersuchungen ist das Werk wenig hilfreich.

Ludwig Steindorff, Kiel

Zitierweise: Ludwig Steindorff über: Natalia Diefenbach-Popov: Das russisch-orthodoxe Kirillo-Belozerskij-Kloster zwischen Macht und Spiritualität. Frankfurt/Main, Berlin, Bern [usw.]: Peter Lang, 2009. VII. = Theion. Studien zur Religionskultur/Studies in Religious Culture, 24. ISBN: 978-3-631-58355-5, http://dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Steindorff_Diefenbach_Popov_Kirillo_Belozerskij_Kloster.html (Datum des Seitenbesuchs)

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