Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 1, S. 141-143

Verfasst von: Ludwig Steindorff

 

Soslovija, instituty i gosudarstvennaja vlast’ v Rossii. Srednie veka i rannee novoe vremja. Sbornik statej pamjati L. V. Čerepnina [Stände, Institutionen und Staatsgewalt in Russland. Mittelalter und frühe Neuzeit. Sammelband zur Erinnerung an L. V. Čerepnin]. Otv. red. Valentin L. Janin / Vladislav D. Nazarov. Moskva: Jazyki slavjanskich kul’tur, 2010. 991 S. ISBN: 978-5-9551-0417-1.

Anlässlich des hundertsten Geburtstages von Lev Vladimirovič Čerepnin am 30. März 1905 (gestorben am 6. Juni 1977) fand im Dezember 2005 eine große, vom Institut für allgemeine Geschichte der Russländischen Akademie der Wissenschaften (IVI RAN) organisierte Konferenz statt. Hieraus ist nun ein umfangreicher Sammelband hervorgegangen. Von den darin enthaltenen 88 Aufsätzen stammen die allermeisten von Autoren aus der Russländischen Föderation selbst; drei Beiträge kommen aus den baltischen Staaten, neun aus Weißrussland und der Ukraine, fünf aus Westeuropa und den USA. Die Verteilung zeigt, wie weit die noch unmittelbaren oder auch nur mittelbaren persönlichen Bindungen der Autoren zum Geehrten wirken und wie viele Historikerinnen und Historiker Impulse durch Arbeiten von Čerepnin erfahren haben. So verweist das Redaktionskollegium im Vorwort auch noch einmal auf die Verdienste Čerepnins um die Erschließung, Edition und Interpretation von Quellen, insbesondere von Urkunden. Das im Titel genannte Thema des Bandes habe man entsprechend einem Hauptinteressengebiet von Čerepnin gewählt, nämlich der Entwicklung des Verhältnisses von Gesellschaft und Staatsgewalt, einem auch in der Gegenwart aktuellen Thema. Schon vorweg ist zu sagen, dass es nicht Anliegen des Bandes oder einzelner Autoren ist, hierzu eine Synthese zu liefern oder ein Geschichtsmodell zu entwerfen, vielmehr geht es um die Vielfalt der Möglichkeiten, sich diesem Themenkreis anzunähern und bezogen auf bestimmte Kontexte dicht dokumentierte Antworten zu geben.

Der Band ist in sechs ungleich umfangreiche Sektionen gegliedert: „Das Werk des Akademikers L. V. Čerepnin im Kontext der Historiographie“; „Archäographie, Quellenkunde, historische Spezialwissenschaften“; „Ständische Strukturen und der Staat in der Alten Rus’ (10. – Mitte 13. Jh.)“; „Stände, staatliche Einrichtungen und die Oberherrschaft in der Rus’ (Mitte 13. – 15. Jh.)“; „Stände, Einrichtungen und die autokratische Monarchie in Russland (16. – Mitte 17. Jh.)“; „Stände und gesellschaftliche, kulturelle und staatliche Einrichtungen Russlands (Ende 17. – 18. Jh.)“. Bei vielen Autoren ist gut zu erkennen, wie sich ihre Beiträge in eigene größere Forschungsvorhaben einfügen.

Es kann nicht die Aufgabe dieser Besprechung sein, alle 88 Aufsätze zu benennen. Ich belasse es bei einigen Beispielen: S. M. Kaštanov (S. 75) analysiert die in slavischer Sprache und kyrillischer Schrift verfassten Urkunden aus der Kanzlei der moldauischen Fürsten vom Ende des 14. und ersten Drittel des 15. Jahrhunderts. – Ju. D. Rykov (S. 106) verdanken wir einen weiteren Fund zum liturgischen Gefallenengedenken, nämlich aus einem Sinodik der Erzengel-Kirche im Moskauer Kreml’ den Eintrag mit der Überschrift: „Im Jahre 7064 [1556] wurden in der Gegend von Kazan’ bei Ošita erschlagen.“ Rykov identifiziert die fünf genannten Personen und geht ausführlich auf die Kämpfe 1556 ein. – I. V. Zajcev (S. 154) publiziert Dokumente aus der Sammlung von Ali Ufki Bej, der, in Lemberg geboren und wahrscheinlich armenischer Abstammung, noch als Kind in tatarische Gefangenschaft geriet und ins Osmanische Reich verkauft wurde. Hier machte er nach seiner Freilassung im Hofdienst Karriere. In der Korrespondenz vom Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre des 17. Jahrhunderts geht es um die Beziehungen zwischen Moskau, den Tataren und den Kosaken.

A. V. Nazarenko (S. 268) vergleicht die Nachfolgeregelung durch Jaroslav den Weisen 1054 mit der Praxis in westlichen Reichen. Er erkennt Gemeinsamkeiten sowohl mit der archaischen merowingischen Praxis, die Gleichrangigkeit aller Söhne zu sichern, als auch mit der – letztlich nicht realisierten – ordinatio imperii Ludwigs des Frommen von 817, die den Senior klar bevorteilte und gerade mittels geordneter Teilung auf den Erhalt der Reichseinheit abzielte.

V. D. Nazarov (S. 382) verfolgt, wie sich in der Zeit von 1389 bis 1503, vom Testament des Dmitrij Donskoj bis zum Testament Ivans III., die Typologie der Fürsten ändert. An die Stelle verschiedenster Abstufungen von Unabhängigkeit trat allmählich das Nebeneinander nur noch zweier Kategorien: Die Familie des Moskauer Großfürsten auf der einen Seite und služilye knjaz’ja, in dessen Dienst stehende Fürsten, auf der anderen Seite. Wie Nazarov betont, kann man nicht von einer Korporation der Dienstfürsten – also einem Stand im spätmittelalterlich-frühmodernen Sinne – sprechen, denn es fehle eine entsprechende Selbstorganisation. Bestenfalls auf eng regionaler Ebene könne von Ansätzen dazu die Rede sein. – S. V. Černov (S. 444) setzt seine Untersuchungen zu den Landbesitzverhältnissen westlich und nördlich von Moskau im 15. Jahrhundert fort. Wie er für das Gebiet um Radonež konstatiert, wuchs von der Mitte des 14. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts trotz des Ausbaus von kirchlichen Grundherrschaften auch der Anteil an Land in fürstlicher Verfügung. – Bei A. I. Alekseev (S. 531) geht es um die schließlich erfolgreichen Bemühungen des Novgoroder Erzbischofs Gennadij, die „Judaisierenden“ als häretische Gruppe zu identifizieren und den Großfürsten Ivan III. 1491 zu ihrer Verfolgung zu veranlassen.

O. G. Usenko (S. 621) zählt für das 17. Jahrhundert 29 samozvancy, falsche Thronerben, auf, von denen die meisten aus der Unterschicht stammten. Keineswegs geschah das Auftreten in jedem Falle im Zusammenhang mit Unruhen. – Wie A. I. Beljakov (S. 694) ausführt, wurde die Ehe von Simeon Bekbulatovič mit der Fürstentochter Anastasija Iva­novna Mstislavskaja durch dessen Status als Zar von Kasimov möglich, nicht umgekehrt. Überhaupt füge sich diese Ehe in ein häufiger belegtes Muster ein, dass die Bräute für Tatarenfürsten aus aussterbenden Zweigen hochstehender Familien gewählt wurden, um eine Kollision mit Interessen von Brüdern zu vermeiden.

S. P. Orlenko (S. 713) zufolge wurde im 17. Jahrhundert die vor allem kirchlicherseits betriebene Segregation zwischen Ausländern und Einheimischen sowohl via facti als auch durch viele Ausnahmeregelungen unterlaufen. Der Autor vergleicht das Verhalten gegenüber den Nicht-Orthodoxen mit der Politik gegenüber den Juden in westlichen Staaten jener Zeit. Im Beitrag von Ė. Monachen (Erika Monahen, New Mexico University; S. 765) geht es um eine Facette der Handelspolitik zur Zeit von Zar Aleksej Michajlovič, nämlich um die Förderung und Kontrolle des Handels mit der Rhabarberwurzel als pflanzlichem Heilmittel. Sie wurde in Westsibirien sowohl gesammelt als auch durch Aussaat gewonnen.

Wohl jeder, der sich mit der älteren russischen Geschichte befasst, kann in diesem Band zu seinen Arbeitsgebieten fündig werden; viele Artikel sind Fundgruben zur Prosopographie. Hier wäre es hilfreich, wenn z.B. auf den Internet-Seiten des herausgebenden Institutes oder des Verlages ein Inhaltsverzeichnis des Bandes für diejenigen zu finden wäre, denen kein Exemplar vor Ort zur Verfügung steht.

Die Gedenkschrift spiegelt bis zu einem gewissen Grad die Internationalität der Alt­russland-Forschung wider, vor allem aber kann sie als weit ausgreifende Momentaufnahme der russländischen Historiographie zur vormodernen Geschichte Russlands gelten.

Ludwig Steindorff, Kiel

Zitierweise: Ludwig Steindorff über: Soslovija, instituty i gosudarstvennaja vlast’ v Rossii. Srednie veka i rannee novoe vremja. Sbornik statej pamjati L. V. Čerepnina [Stände, Institutionen und Staatsgewalt in Russland. Mittelalter und frühe Neuzeit. Sammelband zur Erinnerung an L. V. Čerepnin]. Otv. red. Valentin L. Janin / Vladislav D. Nazarov. Moskva: Jazyki slavjanskich kul’tur, 2010. 991 S. ISBN: 978-5-9551-0417-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Steindorff_Soslovija_instituty_i_gosudarstvennaja_vlast.html (Datum des Seitenbesuchs)

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