Andrew A. Gentes Exile to Siberia, 1590–1822. Palgrave Macmillan Houndmills, Basingstoke 2008. XIII, 271 S., 1 Kte. ISBN: 978-0-230-53693-7.

Die Dissertation von Andrew A. Gentes, lecturer für Russische Geschichte an der Universität von Queensland, beleuchtet die fast dreihundertjährige Geschichte Sibiriens als Verbannungskolonie des Zarenreiches. Eingeflossen ist umfangreiches Quellenmaterial aus mehreren zentralen und regionalen russischen Archiven wie dem GARF in Moskau und den Archiven in Irkutsk und Vladivostok. In der Einleitung nimmt der Autor zunächst eine gesamthistorische Verortung des Themas „Verbannung“ und „Exil“ vor und rekurriert dabei auf den Aufsatz „Reflections on Exile“ von Edward Said aus dem Jahr 1984. Dementsprechend will Gentes in einer innovativen Sichtweise die nach Sibirien Verbannten nicht als Opfer der zarischen Autokratie, sondern als handelnde Subjekte beschreiben, die ihre Verbannungszeit aktiv gestalteten. Die zentrale Frage, die sich der Autor hier stellt, lautet: Inwiefern spiegelt sich die Verbannung in der Biographie wider? Um es vorwegzunehmen: Eine Antwort darauf sucht man in dem Buch vergeblich. Auch dem in der Einleitung angekündigten theoretischen Ansatz, die Verbannten als handelnde Subjekte zu betrachten, bleibt die Darstellung nicht treu.

Den Schwerpunkt bilden administrative As­pekte. Die Entwicklung des Verbannungssystems wird chronologisch beschrieben, d.h. von seinen Anfängen unter Ivan IV. bis in die ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts. Endpunkt ist das Jahr 1822, in das die Reformen Speranskijs fallen. Das ist betrüblich, weil die weitere Entwicklung bis zum Ende der Autokratie, insbesondere Ansätze zu reformerischen Veränderungen und deren Rücknahme, ausgeblendet werden. Gentes weist auf die kolonisatorischen Aspekte der Verbannung hin. So fielen deren Anfänge mit dem 16. Jahrhundert in eine Zeit, als Russland nach Osten expandierte und das Imperium seinen Anfang nahm. Es gibt analoge Fälle in der Geschichte des europäischen Kolonialismus. So deportierte Portugal im 16. Jahrhundert 200.000 bis 300.000 Menschen nach Übersee. Anknüpfend an Michel Foucaults „Discipline and Punish: The Birth of Prison“ (1977), folgert Gentes, dass die Verbannung nach Sibirien die Entwicklung einer Zivilgesellschaft im Zarenreich verlangsamt habe. Der Autor zeichnet die Eroberung und frühe koloniale Erschließung Sibiriens durch Kosaken – angeführt von dem legendären Ermak – nach. Als Ausgangslage für die soziale Entwicklung Sibiriens stellt der Autor das Fehlen von Leibeigenschaft heraus. Noch im 18. Jahrhundert unter Peter dem Großen war der sibirische Bauer in seiner Wirtschaftsweise autonomer als sein Standesgenosse im europäischen Teil des Zarenreiches. In Sibirien hatten sich vor allem Läuflinge (guljaščie) und Staatsbauern niedergelassen. Bereits ins 17. Jahrhundert reichen die Ansätze zurück, Kriminelle in Sibirien anzusiedeln. Ziel war es nach Ansicht des Autors, diese sozial Missliebigen in Bauern zu verwandeln. Zugleich macht Gentes zu Recht einen Funktionswandel im moskovitischen Strafrecht aus, der bereits unter Zar Ivan IV. begonnen hatte: Nicht mehr die gesellschaftliche Ächtung (vybitie), sondern die Verbannung (ssylka) trat in den Vordergrund. Hieraus ergab sich ein Arbeitskräftepotential für die Erschließung der Kolonie Sibirien. Es war zugleich die Geburtsstunde des sibirischen Verbannungssystems. Die­ses war nicht effektiv. Viele der als Strafkolonisten angesiedelten Kriminellen verließen ihre Höfe wieder. Zudem weist Gentes darauf hin, dass Strafkolonisation im dichter besiedelten und ertragreicheren Westsibirien kaum eine Bedeutung spielte. Sie war dagegen im raueren Ostsibirien, wo sich freiwillige Siedler kaum einfanden, verbreitet. Aber auch hier rentierten sich die meisten Landwirtschaften nicht; viele Strafkolonisten gaben nach kurzer Zeit das Land auf und engagierten sich in der lukrativen Pelzjagd. Die wichtige Schlussfolgerung, die der Autor zieht, besteht darin, dass das sibirische Bauerntum sich eben nicht aus Strafkolonisten rekrutierte. Insgesamt machten die 35.000 Deportierten zwischen 1662 und 1709 gerade einmal 10 Prozent der nicht-indigenen Bevölkerung Sibiriens aus. Der Autor vertritt daher die These, dass man Sibirien nicht als typische Strafkolonie bezeichnen könne. Interessant ist auch sein Vergleich mit Nordamerika vor 1776, als die Briten dorthin 50.000 Menschen deportierten. Das Verbannungssystem im Zarenreich basierte auf den beiden Pfeilern der eigentlichen Verbannung (ssylka) und der Strafarbeit (katorga). Gentes analysiert hier die Funktionsweisen: Während die landwirtschaftliche Erschließung Sibiriens kaum auf der ssylka basierte, legte die katorga das Fundament für die Proto-Industrialisierung. So war – wie Gentes überzeugend nachweist – die Metallurgie ein Industriezweig, dessen Entstehung ohne die katorga nicht denkbar gewesen wäre.

Mit der Entwicklung einer Jurisprudenz im Zarenreich wurde auch eine Systematisierung des Straf- und Verbannungssystems initiiert. Aber es war ein Kennzeichen der zarischen Autokratie, dass Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderklafften.

Das Buch vermittelt einen guten Überblick, beantwortet aber nicht die drängende Frage, welchen mentalen Einfluss das Verbannungssystem im Sinne Foucaults auf „Bewacher“ und „Bewachte“ ausübte.

Eva-Maria Stolberg, Duisburg-Essen

Zitierweise: Eva-Maria Stolberg über: Andrew A. Gentes: Exile to Siberia, 1590–1822. Palgrave Macmillan Houndmills, Basingstoke 2008. ISBN: 978-0-230-53693-7, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 284: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Stolberg_Gentes_Exile.html (Datum des Seitenbesuchs)