Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 273-274

Verfasst von: Tillmann Tegeler

 

Jan-Hinnerk Antons: Ukrainische Displaced Persons in der britischen Zone. Lagerleben zwischen nationaler Fixierung und pragmatischen Zukunftsentwürfen. Essen: Klartext, 2014. 523 S., 16 Abb. ISBN: 978-3-8375-1187-1.

Im letzten Absatz (S. 484) seiner 2013 als Dissertation in Hamburg eingereichten und 2014 veröffentlichten Studie über ukrainische Displaced Persons (DP) nimmt Jan-Hinnerk Antons Bezug auf die im Winter 2013/14 stattgefundenen Proteste auf dem Majdan und macht darauf aufmerksam, dass daran Kräfte beteiligt gewesen seien, die bereits in den DP-Lagern im Westdeutschland der Nachkriegszeit „den Ton angab[en]“. Der dort gepflegte „kompromisslose […] Politikstil“ habe zu einer „fatalen Polarisierung der Gesellschaft“ geführt; seine „Analyse der nationalistischen Dominierung der DP-Ge­mein­schaften“ zeige, „welche Folgen das für den Alltag und die Gesellschaft haben kann.“ Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen konnte Antons allerdings noch nicht wissen, dass er an dieser Stelle irrte. Leider sind die Folgen der gesellschaftlichen Polarisierung im gegenwärtigen Ukraine-Konflikt wesentlich härter als dies der Fall in den DP-Lagern war. Jedoch ist dieser Irrtum der einzige, den der Autor begeht, und die Entwicklung auf der Krim oder dem Donbass war Anfang 2014 noch nicht vorhersehbar. Um es vorwegzunehmen: Antons Studie ist ein wertvoller Beitrag in mehrerlei Hinsicht. Zum einen ergänzt sie die DP-Historiographie um einen wichtigen Aspekt, der die Geschichte aus der nationalen Sicht der Ukrainer unter Berücksichtigung von Alltagsgeschichte schildert. Angesichts der aktuellen Situation ist das Werk aber auch ein Beitrag zur Geschichte des noch nicht abgeschlossenen ukrainischen Nationbuilding.

Antons stellt seine Untersuchung auf eine breite Quellenbasis und bezieht sowohl Dokumente der internationalen Akteure und Akten aus lokalen Archiven als auch Zeitungsartikel mit ein; zudem bedient er sich mittels Zeitzeugenbefragung der Methode der Oral history und lässt schriftliche Erinnerungen einfließen. Die in der Einleitung angekündigte Ergänzung der ereignisgeschichtlichen Perspektive um eine alltagsgeschichtliche Sicht gelingt. So zeichnet der Autor das Bild einer Miniaturgesellschaft nach, die nur für wenige Jahre in den Lagern bestand und den Raum für Diskurse schuf, wie sie zu dieser Zeit nur in der Emigration geführt werden konnten. Bisher ist die Gruppe der Ukrainer nur wenig beachtet worden. Jedoch spielte sie aufgrund ihrer Herkunft aus zwei Staaten (Polen und Sowjetunion) in der von den Alliierten nach dem Staatsangehörigkeitsprinzip organisierten DP-Betreuung eine Sonderrolle. Zwar wurde ein Großteil der Ukrainer gemäß dem Abkommen von Jalta repatriiert, doch vermochte der in Deutschland verbliebene Teil (etwa 200.000 Personen) sich entgegen der alliierten Politik als eine Nationengruppe zu formieren. Dabei war nicht nur der Grund des Aufenthalts in den westlichen Besatzungszonen (neben ehemaligen Zwangsarbeitern befanden sich auch Wehrmachts- und SS-Kollaborateure unter den ukrainischen DPs) heterogen, sondern auch die religiöse und sprachliche Identität als West- und Ostukrainer, wie die Beispiele der exemplarisch untersuchten Lager Lysenko in Hannover und Heidenau zeigen. Dieser innerukrainische Antagonismus fand Niederschlag in der ausführlich geschilderten „Lysenko-Krise“ (S. 234 ff.). Im diesem größten Ukrainer-Lager kam es vordergründig aus Gründen des Gegensatzes von West- zu Ostukrainern, von denen dort letztere eine Mehrheit von drei zu eins hatten, zu einem Konflikt, der fast zu getrennter Unterbringung beider Gruppen geführt hätte. Tatsächlich war der machtpolitische Anspruch der radikalsten Gruppe unter den Ukrainern, der Organisation Ukrainischer Nationalisten – Bandera (OUN-B), für den Konflikt verantwortlich. Gewohnt, unter den mehrheitlich aus Galizien stammenden Ukrainern in der britischen Besatzungszone die Meinungsführerschaft innezuhaben, suchte die OUN-B dort, wo diese in Gefahr war, sie mit allen Mitteln zu verteidigen. Vor dem Hintergrund, dass nicht nur an der Lysenko-Krise zahlreiche Gruppierungen und Fraktionen beteiligt waren, ist es durchaus sinnvoll gewesen, eingangs umfangreich auf den ukrainischen Nationalismus der Vorkriegszeit einzugehen. Jedoch verliert man aufgrund der großen Zahl der Gruppen schnell den Überblick, sodass es hilfreich gewesen wäre, das Abkürzungsverzeichnis zu einem Glossar zu erweitern.

Neben der wegen ihrer Aktualität höchst interessanten Fragen rund um diese Auseinandersetzungen untersucht Antons auch den Alltag abseits der Politik. So werden Kultur, Religion, Bildung wie auch den Medien einzelne Abschnitte gewidmet. Auch fließen Analysen der sozialen und Geschlechterbeziehungen untereinander sowie der selteneren Kontakte zu anderen Gruppen (Deutschen oder Briten) ebenso in die Studie mit ein wie die allgegenwärtige Angst vor der Sowjetunion. Dass die das Leben der DPs bestimmenden Fragen in Bezug auf die eigene Zukunft abschließend nur kurz erwähnt werden, bedeutet aber nicht, dass Repatriierung in die Heimat, Resettlement nach Übersee oder für den Hard core der Verbleib in Deutschland an anderer Stelle keine Berücksichtigung fänden. Bei der Schilderung des Alltags werden immer wieder Eindrücke von DPs vermittelt, für die ein Verbleib in Deutschland ebenso wenig eine Option war wie die Rückkehr in die sowjetische Heimat. Ihre Lebensplanung war bereits frühzeitig auf die Emigration in die angelsächsischen Länder gerichtet – zumindest sobald ihre Hoffnung auf einen Krieg zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion im voranschreitenden Kalten Krieg zerstob.

Antons hat mit dem besprochenen Werk eine solide Arbeit vorgelegt. Sie liest sich vor allem an den Stellen spannend, an denen die ukrainischen Spezifika hervorgehoben werden. Dies ist in erster Linie dort der Fall, wo politische Auseinandersetzungen Raum nehmen. Der DP-Alltag von Ukrainern unterschied sich dagegen nur wenig von dem anderer Nationen. Bei der britischen Verwaltung der DPs erfährt man über die grundlegende, noch immer gültige Studie von Jacobmeyer (1985) hinaus weitere Details. Die vorliegende Studie ermuntert zur Untersuchung weiterer, in der Forschung bisher vernachlässigter Nationengruppen.

Tillmann Tegeler, Regensburg

Zitierweise: Tillmann Tegeler über: Jan-Hinnerk Antons: Ukrainische Displaced Persons in der britischen Zone. Lagerleben zwischen nationaler Fixierung und pragmatischen Zukunftsentwürfen. Essen: Klartext, 2014. 523 S., 16 Abb. ISBN: 978-3-8375-1187-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Tegeler_Antons_Ukrainische_Displaced_Persons.html (Datum des Seitenbesuchs)

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