Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 4, S. 681-682

Verfasst von: Fabian Thunemann

 

James Ryan: Lenins Terror. The Ideological Origins of Early Soviet State Violence. Abingdon: Routledge, 2012. XII, 260 S. = Routledge Contemporary Russia and Eastern Europe Series. ISBN: 978-0-415-67396-9.

In seinen Erinnerungen an Lenin lässt Maksim Gorkij keinen Zweifel an seiner Bewunderung für dessen furchtlose Vernunft und abgeklärten Spott gegenüber denen, die der Revolution allein aus der Furcht den Rücken kehrten, die „geliebte Theorie“ könne an der nüchternen Realität des Politischen Schaden nehmen. Für solche Erwägungen hatte der aufstrebende Führer kein Verständnis und er versicherte dem Schriftsteller, dass ihm vor der Kollision mit der Realität nicht bange sei; sei die Theorie doch nicht etwa heilig oder unverbrüchlich, sondern „lediglich als ein Instrument“ im Kampfe zu verstehen. Mit derlei Einlassungen machte Lenin nicht nur unmissverständlich klar, was er von schöngeistigen Revolutionären hielt, sondern auch, dass sich für ihn nicht die Realität einer abstrakten Theorie zu fügen, sondern umgekehrt, die Theorie den Umständen anzudienen habe. Die Studie von James Ryan mischt sich in eben diesen alten Streit ein und sucht eine bereits vielfach als überholt abgetane Debatte über die Rolle der Ideologie im Zusammenhang mit der sowjetischen Staatsgewalt neu zu beleben.

Diese Rückbesinnung hat gerade in den letzten Jahren einige wichtige Publikationen – von Erik van Ree bis David Brandenberger – hervorgebracht und dabei vielfach eindrücklich zeigen können, dass die Fortführung dieser Debatte lohnend sein kann, gerade weil sich nüchternes Machtkalkül und ideologische Motivation nicht zwangsläufig ausschließen müssen. Vielmehr hat die neuere Forschung Abstand von einer einfachen Kausalverbindung genommen und die Ideologie als ein fortwährend wandlungsfähiges Sinngebungsverfahren im Strom der Ereignisse bestimmt. Auch Ryan scheint sich dieser Richtung anzuschließen und sieht die Ideologie gerade nicht statisch und abseits des historischen Prozesses, sondern in unmittelbarem Austausch mit der Welt (S. 7, 186–187). Trotz dieser Position, die eine Wechselbeziehung von Ideologie und historischen Ereignissen nahelegt, möchte der Autor dennoch klären, ob die Staatsgewalt sich nun als Produkt der Ideologie oder vielmehr als Antwort auf die Umstände verstehen lasse und ob einem der beiden Phänomene hinsichtlich der Erklärung Priorität einzuräumen sei (S. 1–2). Genau hierin zeigt sich bereits am Beginn der Lektüre eine analytische Schwäche, die dem gesamten Text von vornherein eine ungünstige Schlagseite beschert.

Im Fortgang lesen sich die acht Kapitel des Buches denn auch weniger als konsequente Behandlung des anfangs aufgeworfenen Problems als vielmehr als fleißiger Kommentar zu Lenins politisch-schriftstellerischer Hinterlassenschaft, der auch das Ergebnis schnell erahnen lässt; standen doch für den Gestalter der Revolution Zeit seines politischen Engagements nicht die Partikularinteressen einzelner Menschen, sondern allein die vorgeblich utilitaristische Mission im Vordergrund. Ryan beschreibt nun in den ersten Kapiteln die Spielarten dieses Denkens, die ambivalente Prägung Lenins durch die terroristische Tradition, mit der sein älterer Bruder unmittelbar verbunden war, aber vor allem die Phase, die mit der Revolution 1905 anbrach und ihn veranlassten, seinen Kritikern entgegenzuhalten: „Wir würden uns selbst und die Menschen betrügen, sollten wir der Masse die Notwendigkeit eines extremen und blutigen Krieges der Vernichtung als unmittelbare Aufgabe kommender revolutionärer Taten verbergen.“ (S. 40). Schließlich wollte Lenin auf keinen Fall den Fehler der Pariser Kommune, des Referenzpunktes seines antizipierten Arbeiterstaates, wiederholen und dem „Widerstand der Ausbeuter“ nicht gewachsen sein (S. 87).

Auch die folgenden Kapitel sind Variationen über das Thema der Gewalt und Gegengewalt, wobei Krieg und Bürgerkrieg von Lenin stets als Laboratorium revolutionärer Umgestaltung beschworen wurde und der apostrophierte Friede bekanntlich die Trümmer der alten Ordnung voraussetzte (etwa S. 141–142). Ryan versorgt den Leser denn auch mehr als ausreichend mit Zitaten aus Schriften, Reden, Zeitungsartikeln und Pamphleten, anhand derer er die Stationen eines Krieges gegen den Krieg (voina voine) (S. 52) dokumentiert, ohne sich dabei jedoch erkenntlich um die Ausgangsfrage seines Buches zu scheren und klare Argumente oder Thesen anzubieten. Stattdessen hören wir fortwährend Lenin zum Weltkrieg, zum Bürgerkrieg, zu seinen vermeintlichen oder tatsächlichen Feinden im Inneren, und am Ende ertönt stets der Akkord, man müsse unter den gegebenen Umständen all diesen Problemen mit entschlossener Gewalt begegnen (bes. S. 77–99). Dabei ist selbstredend die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik, mit der Lenin die Verwüstungen der vergangenen Jahre zumindest teilweise in den Griff zu bekommen suchte, auch nicht etwa als Rückzug zu begreifen, sondern sie steht vielmehr beispielhaft für seine instrumentelle Herrschaftspraxis und den flexiblen Umgang mit der Staatsideologie. Ebenso zeigte die Niederschlagung des Aufstandes von Kronstadt, die Verfolgung vermeintlicher Intellektueller und Geistlicher und dann der Schauprozess gegen die Sozialrevolutionäre auch deutlich, dass das Paradigma von der Gewalt als Lösung für Lenin nichts an Überzeugungskraft eingebüßt hatte (S. 159–183).

Ein nachsichtiger Leser mag dies alles vielleicht als die angekündigte „Ideengeschich­te“ (S. 3) durchgehen lassen, aber dann hätte Ryan wohl besser seinen Anspruch fahren lassen, diese gerade auf den Ereignisverlauf abzustimmen, um somit das Erklärungspotenzial von Ideologie und Praxis auszuloten. Was sagt etwa die nicht völlig überraschende Reaktion der neuen Machthaber nach dem Attentat auf Lenin über ihre spezifische Ideologie? Hier hätte durchaus auf das interessante, bei Marx angelegte, unter Lenin aufgegriffene und später unter Stalin zu voller Blüte kommende Konzept der Intensivierung des Klassenkampfes verwiesen werden können; stattdessen liest man unter anderem die unmittelbare Reaktion der Pravda (S. 113). Ideologie und Ereignisse lassen sich jedoch nicht einfach als kommunizierende Röhren verstehen, und so ist die Deutung eines historischen Verlaufes auch nicht unbedingt mit dem Zitieren zeitnaher Äußerungen zu einem bestimmten Ereignis erledigt. Nicht einmal am Ende wird schließlich eindeutig Stellung bezogen, und auch die Ausgangsfrage bleibt einfach liegen. Stattdessen werden zum Schluss nochmals die Ergebnisse anderer Forscher (durchaus lesenswert) angeführt, um dann einerseits dafür zu plädieren, dass Lenins Glaube an eine rosige Zukunft den Staatsterror „motiviert“ (S. 190) habe, andererseits aber eine Seite später zu bedenken zu geben, dass die Gewalt eine „Reaktion“ auf die Wirren dieser besonderen Zeit gewesen sei. Trotz all dieser erwähnten Mängel mag das Buch womöglich dennoch für diejenigen von Interesse sein, die es als kommentierte Bibliographie zu Lenins Denken über die Gewalt zu Rate ziehen wollen.

Fabian Thunemann, Berlin

Zitierweise: Fabian Thunemann über: James Ryan: Lenin’s Terror. The Ideological Origins of Early Soviet State Violence. Abingdon: Routledge, 2012. XII, 260 S. = Routledge Contemporary Russia and Eastern Europe Series. ISBN: 978-0-415-67396-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Thunemann_Ryan_Lenins_Terror.html (Datum des Seitenbesuchs)

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