Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 141-142
Verfasst von: Sören Urbansky
Paulus Adelsgruber / Laurie Cohen / Börries Kuzmany: Getrennt und doch verbunden. Grenzstädte zwischen Österreich und Russland 1772–1918. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2011. 316 S., 33 Abb. ISBN: 978-3-205-78625-2.
Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs haben Osteuropahistoriker Grenzen als Thema wiederentdeckt. Die kollektive Monographie der drei jungen Wiener Historiker/-innen Paulus Adelsgruber, Laurie Cohen und Börries Kuzmany ist ein wichtiger Beitrag zu diesem Forschungsfeld. Hervorgegangen ist sie aus dem Projekt Multikulturelle Grenzstädte in der Westukraine 1772–1914 (vgl. JGO 55 [2007], S. 210–241), das unter der Leitung von Andreas Kappeler stand.
Gegenstand sind drei sehr unterschiedliche – heute allesamt in der westlichen Ukraine gelegene – Städtepaare an der österreichisch-russländischen Grenze: die Doppelstadt Husiatyn sowie Podwołoczyska-Wołoczyska und Brody-Radzwiłłów. Über Brody erschien 2011 auch die Dissertation des Koautors Börries Kuzmany (Brody: Eine galizische Grenzstadt im langen 19. Jahrhundert. Wien usw.: Böhlau, 2011). Den chronologischen Rahmen von knapp anderthalb Jahrhunderten bilden die historischen Zäsuren der ersten Teilung Polens (1772) und des Endes des Ersten Weltkriegs (1918), welche die Entstehung und den Zusammenbruch der hier untersuchten Grenze markieren.
Die Autoren stellen unter anderem folgende Fragen: Welche Veränderungen hatte die Grenzziehung zur Folge? Wie wirkten sich die neuen Realitäten der Zugehörigkeit zu Österreich-Ungarn oder zum Russischen Reich auf die im Grenzgebiet lebenden Menschen aus? Welche Verbindungen blieben trotz der Etablierung der neuen Grenze bestehen? Ein zweiter Fragenkatalog ist auf das für Grenzstudien zentrale Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie gerichtet, beispielsweise auf die Präsenz des Zentrums an der Peripherie, also das Zollwesen, die Grenzsicherung usw. Drittens schließlich wird nach der Funktion der untersuchten Städte für die Grenze und die Imperien gefragt: Inwieweit waren die Städte in europäische Verkehrsnetze und Handelsströme eingebunden? War die Grenzlage ein Standortvorteil oder ein Standortnachteil?
Dieser – sehr umfangreiche – Fragenkatalog wird in fünf Schritten (Kapitel 2 bis 6) abgearbeitet: Nach der Einleitung (Kapitel 1), die das Buch nur sehr knapp im weiten Forschungsfeld der border studies (Fn. 8 auf S. 18) verortet, skizziert das hingegen sehr ausführlich geratene zweite Kapitel die Geschichte, Größe und Bedeutung der untersuchten Grenzstädte im langen 19. Jahrhundert. Das dritte Kapitel umreißt die Festlegung und Etablierung der neuen Grenze zwischen den Imperien der Habsburger und der Romanovs durch die Demarkation und die Einrichtung eines fiskalischen wie militärischen Wachregimes. Im Mittelpunkt des vierten Kapitels stehen die Grenzstädte als Übergangspunkte im internationalen Handelsverkehr sowie deren Einbindung in die Infrastrukturnetze beider Monarchien. Kapitel 5 untersucht Auswirkungen der Grenzziehung auf die Religionspolitik und die religiöse Praxis. Die Folgen der zerstörerischen Gewalt des Ersten Weltkriegs für die Grenzstädte sind Gegenstand des letzten Kapitels. Nach einem analytisch scharfsinnigen Schluss folgt im Epilog eine Spurensuche in der Gegenwart.
Die Studie ist trotz spärlicher Archivbestände solide aus den Quellen heraus geschrieben. Überzeugend wird anhand grenzüberschreitender Prozesse wie Pilgerfahrten, Flucht und Handel die Durchlässigkeit dieser willkürlich festgelegten Grenze beschrieben. Die Kontrastierung von drei ungleichen Städtepaaren überzeugt, gerade im Hinblick auf die unterschiedliche ökonomische Entwicklung, die nicht nur, wie im Falle Podwołoczyska-Wołoczyska einen Boom, sondern durch eine fehlende Eisenbahnverbindung auch einen Rückgang an Einfluss (Husiatyn) bedeuten konnte. Trotz aller Detailschärfe hat die Studie einige wenige Schwächen: Während die Politik des Zentrums und ihre Wirkung auf die Peripherie über die Kapitel hinweg sehr anschaulich nachgezeichnet wird, fehlt bisweilen die Analyse der Reaktionen der Grenzbewohner, die über eine Schilderung bloßer Begebenheiten hinausgeht. Zollakten etwa bieten dem Historiker gewöhnlich ein hervorragendes Quellenmaterial für die Analyse von grenzüberschreitenden Netzwerken. Auf deren Grundlage hätte die Geschichte noch mehr aus der Perspektive der Grenzbewohner und somit stärker mit einer „mikrogeschichtlichen Herangehensweise“ (S. 249) geschrieben werden können, wie sie die Autoren selbst einfordern. Wer war mit wem bekannt? Wer sprach welche Sprache? Wer hatte welche hybriden Identitäten? Gleichermaßen fehlt der Blick aufs Land: Welche grenzüberschreitenden Landnutzungsrechte hat es an der Ostgrenze Galiziens gegeben? Dennoch ist das Buch ein wichtiger Beitrag für die vergleichende historische Untersuchung von Städten an Grenzen im östlichen Europa.
Zitierweise: Sören Urbansky über: Paulus Adelsgruber / Laurie Cohen / Börries Kuzmany: Getrennt und doch verbunden. Grenzstädte zwischen Österreich und Russland 1772–1918. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2011. 316 S., 33 Abb. ISBN: 978-3-205-78625-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Urbansky_Adelsgruber_Getrennt.html (Datum des Seitenbesuchs)
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