Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 3

Verfasst von: Sören Urbansky

 

Perepiska I. V. Stalina i G. V. Čičerina s polpredom SSSR v Kitae L. M. Karachanom. Dokumenty, avgust 1923 g. – 1926 g. [Die Korrespondenz I. V. Stalins und G. V. Čičerins mit dem Generalbevollmächtigten der UdSSR in China L. M. Ka­rachan. Dokumente vom August 1923 bis 1926]. Sost., otv. red.-sost., avt. predisl. A. I. Kartunova, gl. red. M. L. Titarenko. Moskva: Izdat. Natalis, 2008. 704 S., 15 Abb. ISBN: 978-5-8062-0294-0.

Die vorliegende Quellensammlung liefert einen umfassenden Einblick in die China-Korrespondenz zwischen Joseph Stalin und dem Volkskommissar für Außenpolitik Georgij Čičerin einerseits und Lev Karachan, Generalbevollmächtigten der UdSSR in China, andererseits. Die ersten vier Jahre diplomatischer Beziehungen zwischen der UdSSR und der Republik China, die das vorliegende Buch abdeckt, gelten als eine richtungsweisende Phase der Chinapolitik der Sowjetunion. Sie waren durch die von Moskau initiierte Formierung der Ersten Einheitsfront der Nationalisten (Guomin­dang) um Sun Yatsen und der Kommunistischen Partei Chinas geprägt. In diese Zeit fällt ebenso der Beginn des China einigenden Nordfeldzugs der Guomindang, der zum Ende der Koalition zwischen Nationalisten und Kommunisten führte und in der Folge auch den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Moskau und Nanjing bedeutete. Karachan war die zentrale Figur der frühen sowjetischen China-Politik: Seit 1919 leitete er das Ostreferat des Volkskommissariats für Außenpolitik. Im ersten „Karachan-Manifest“ vom Juli 1919 trat er noch für den Verzicht auf sämtliche kolonialen Ansprüche aus der Zarenzeit ein – eine rein rhetorische Absicht freilich, die bald schon unter den Tisch gekehrt werden sollte. 1923 schließlich wurde Karachan nach Peking entsandt, um dort über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Staaten zu verhandeln.

Die hier erstmals zusammenhängend veröffentlichte Korrespondenz Karachans mit Stalin und Čičerin ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Die Dokumente geben Einblick in die militärische wie organisatorische Assistenz, die Moskau Sun Yatsen und der Guomindang zukommen ließ. Sie offenbaren, wie die sowjetische Führung auch in China an eine urbane Revolution glaubte und die Arbeiteraufstände im Sommer 1925 in Shanghai unterstützte. Monate später bereits hielt man in diplomatischen Kreisen die Spaltung der Guomindang aber für unausweichlich; die Hoffnung auf eine kommunistische Unterwanderung der Guomindang und damit die Aussicht auf eine rasche Revolution in China hatten sich zerschlagen. Obwohl Moskau früh über das Auseinanderdriften des rechten und linken Flügels der Guomindang und damit das bevorstehende Ende der Einheitsfront informiert war, stritten Čičerin und Karachan über die richtige Strategie. Daneben zeichnen die Dokumente unter anderem die Unterredungen Moskaus mit der nominellen chinesischen Regierung in Peking und dem die Mandschurei kontrollierenden Warlord Zhang Zuolin nach. Der erfolgreiche Abschluss der Verhandlungen mit Peking und Mukden bedeutete die sowjetische Kontrolle über die Ostchinesische Eisenbahn ab 1924 – und damit die Wiedererlangung imperialer Besitzungen aus der Zarenzeit.

Die vorliegenden Telegramme und Briefe bergen keine neuen, bahnbrechenden Erkenntnisse. Jedoch wirft die oft persönliche Sprache der Korrespondenz ein anderes Licht auf die sino-sowjetischen Beziehungen der zwanziger Jahre als etwa die Mitte der neunziger Jahre erschienene mehrbändige Quellenedition „VKP (b), Komintern i Kitaj“, welche die Beziehungen eher durch die bürokratische Sprache von Politbüroverordnungen beleuchtet. Stalin und Čičerin pflegten eine über die rein dienstlichen Kontakte hinausgehende Freundschaft mit Karachan, was sich laut der Herausgeberin A. I. Kartunova eben auch in dem „offenen, vertrauensvollen Charakter“ widerspiegelt, der die „Erörterung von Ereignissen, Problemen und Personen in vielen Schriftstücken“ kennzeichnet (S. 9).

Die insgesamt 207 Dokumente sind eine kluge Auswahl der überlieferten Schriftstücke. Die Quellen selbst sind in einem Fußnotenapparat ausführlich mit meist hilfreichen Erläuterungen zu Personen und mit historischen Hintergrundinformationen versehen. Die Dokumente sind den Beständen des Russischen Staatsarchivs für soziale und politische Geschichte (RGASPI) sowie den Beständen des Archivs für Außenpolitik der Russischen Föderation (AVP RF) entnommen. In letzterem wird ausländischen Forschern die Arbeit zunehmend erschwert, was den Nutzen des vorliegenden Bands noch steigert.

In ihrem instruktiven Vorwort ordnet die Herausgeberin auf knapp 50 Seiten nicht nur die einzelnen Korrespondenzen in ihren historischen Kontext ein, sondern nimmt stellenweise auch eine eigene Auswertung vor. Dabei unterlaufen Kartunova jedoch eine Reihe Fehler. So war beispielsweise der Bau der Ostchinesischen Eisenbahn nicht mit russischem, sondern in erster Linie mit französischem und belgischem Kapital finanziert (S. 15). Der Umfang der Ausführungen lässt das Vorwort mitunter zu einer selbständigen Abhandlung zentraler Fragen der sowjetisch-chinesischen Beziehungen jener Zeit werden. Einer derart erschöpfenden Darstellung hätte es jedoch nicht bedurft, da diese Geschichte dem Fachpublikum hinlänglich bekannt ist. Dennoch: Die Quellensammlung ist für den China-affinen Russlandhistoriker ein wichtiges Nachschlagewerk, das Einblick in die frühen Jahre der China-Politik der Sowjetunion gibt, auf diplomatischer Ebene wie über die Kanäle der Komintern.

Sören Urbansky, Freiburg i.Br.

Zitierweise: Sören Urbansky über: Perepiska I. V. Stalina i G. V. Čičerina s polpredom SSSR v Kitae L. M. Karachanom. Dokumenty, avgust 1923 g. – 1926 g. [Die Korrespondenz I. V. Stalins und G. V. Čičerins mit dem Generalbevollmächtigten der UdSSR in China L. M. Karachan. Dokumente vom August 1923 bis 1926]. Sost., otv. red.-sost., avt. predisl. A. I. Kartunova, gl. red. M. L. Titarenko. Izdat. Natalis Moskva 2008. ISBN: 978-5-8062-0294-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Urbansky_Perepiska_I_V_Stalina.html (Datum des Seitenbesuchs)

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