Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 122-124

Verfasst von: Hans-Erich Volkmann

 

Benjamin Conrad: Umkämpfte Grenzen, umkämpfte Bevölkerung. Die Entstehung der Staatsgrenzen der Zweiten Polnischen Republik 1918–1923. Stuttgart: Steiner, 2012. 382 S., 9 Ktn. = Quellen und Studien zur Geschichte des Östlichen Europa, 84. ISBN: 978-3-515-10908-6.

Kein europäisches Land hat in so hohem Maße die Aufmerksamkeit der deutschen Historiografie beansprucht wie Polen. Keine andere als die polnische Nachbarnation war schicksalhafter mit der deutschen verbunden. Und nicht einmal der „Erbfeind“ Frankreich musste eine derart emotional verfälschte Darstellung seiner Geschichte aus deutscher Feder hinnehmen. Am Bemühen um Korrekturen hat es vor allem in beispielhaften Gesamtdarstellungen nicht gefehlt, wie sie Gotthold Rhode und Hans Roos bereits zu Beginn der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts vorlegten. Immer wieder sind an der Universität Mainz wissenschaftliche Studien zur Versachlichung der Diskussion erschienen bzw. vernachlässigte Felder polnischer Geschichte beackert worden, zu denen auch die vorzustellende Dissertation zählt.

Der Autor führt dem Leser zum Einstieg in seine eigentliche Thematik das politische Schicksal der polnischen Nation von deren staatlichen Teilungen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges vor Augen. Es ist dies die geschichtliche Spanne, in der die polnische Frage von der europäischen Politik weitgehend als Angelegenheit der jeweiligen Teilungsmacht oder als trinationales Problem erachtet wurde, das zwischen Russland, Preußen/Deutschland und Österreich-Ungarn auszutarieren war. Seit der 1915 erfolgten Besetzung durch die Mittelmächte war Kongress-Polen zunächst Objekt russischer Besitzstandsrestitution und zwischen Berlin und Wien Gegenstand konkurrierender territorialer sowie wirtschaftspolitischer Begierde. Russland betrieb Sympathiewerbung durch weitreichende Autonomieversprechen. Die Mittelmächte proklamierten für die Nachkriegszeit einen Satellitenstaat, den sie vorab mit provisorischen Selbstverwaltungsorganen ausstatteten.

Mit der Deklaration nationalstaatlicher Selbstbestimmung seitens der Bolševiki und im Rahmen der 14 Punkte Wilsons erhielt die Errichtung eines zukünftigen polnischen Staatswesens einen weltkriegspolitischen Rang. Nun änderte sich die polenpolitische Kräfte­konstellation. Fortan lag die Installation eines polnischen Staates in den Händen der Westalliierten. Die zuvor russophile Dmowski-Gruppe wirkte jetzt in der Emigration eng mit diesen zusammen, während die staatsbildenden Aktivisten der Piłsudski-Anhänger in Polen selbst agierten. Diesen Wechsel der politischen Initiative, die die deutschen und österreichischen Teilungsgebiete in die Überlegungen zur Gestaltung der Polenpolitik mit einschloss, nimmt Conrad zum Anlass, die Perspektive seiner Untersuchung zu ändern. Er rückt nun die polnischen politischen Akteure in den Mittelpunkt seiner Betrachtung und den Schwerpunkt seiner Untersuchung in die unmittelbare Nachkriegszeit. Da Frankreich seine beabsichtigten Amputationen deutschen Territoriums an Rhein und Ruhr zur industriellen und militärstrategischen Schwächung des Reiches nicht realisieren konnte, profitierte Polen von der alliierten Entschlossenheit, Teile der deutschen Ostprovinzen als Hort des preußischen Militarismus zu polonisieren.

Die Tatbestände um die militärischen Auseinandersetzungen und die Problematik der Volksabstimmung in Oberschlesien sind bekannt. Das Verdienst des Autors ist es, die ethnisch und historisch begründeten Konflikte mit in die Betrachtung einzubeziehen, die die Etablierung eines polnischen Staates mit fremdnationalen Nachbarterritorien auslöste. Gemeint sind insbesondere Litauen, die Ukraine/Sowjetunion sowie die Tschechoslowakei.

Die einzelnen bilateralen Reibungsverluste sind von besonderer historischer Bedeutung, weil sie bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg das Verhältnis Polens zu den benachbarten nationalstaatlichen Neugründungen belastet haben. Zwischen Warschau und Prag war bekanntlich das sogenannte Olsa-Gebiet, nach ethnischen Gesichtspunkten aufgeteilt, so umstritten, dass die Abmachung 1918 von beiden Seiten mit militärischem Einsatz in Frage gestellt wurde, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Überlegungen. Da sich beide Kontrahenten des gesamten Gebietes zu bemächtigen suchten, erzwangen die Westalliierten Mitte 1920 die Annahme der ersten Vertragsregelung. Warum das nationalsozialistische Deutschland bei der Besetzung der Tschechoslowakei 1938 den polnischen Einmarsch in das industrialisierte tschechische Olsa-Gebiet und dessen Annexion erlaubte, ist vor dem Hintergrund des sich im selben Jahr anbahnenden polnisch-deutschen Zerwürfnisses noch nicht hinlänglich untersucht worden.

Volksabstimmungen wurden immer nur von dem Staat befürwortet, der mit einem vorteilhaften Ausgang rechnete. Dass die bislang gültigen polnischen Zahlen über die Abstimmung in Oberschlesien eine grobe Fälschung sind, wie wir jetzt wissen, ist ein bedeutsames Einzelergebnis. Es verdeutlicht aber, dass im Sinne der Staatsraison Rechtskategorien keine Gültigkeit besaßen, sondern der Zweck der territorialen Ausgestaltung des Staates selbst den Einsatz kriegerischer Mittel heiligte.

Dass Polen in mehreren Grenzregionen Krieg führte, ist ein weiteres Argument für eine vergleichende Betrachtung des gesamten Grenzziehungsprozesses, wie ihn Conrad anstellt. Einzelne Grenzkonflikte können hier nicht nachgezeichnet werden. Trotzdem zeigen sie Gemeinsamkeiten auf, wie sie der damals herrschenden Nationalitäten-Ideologie entsprachen. So pflegte nicht nur Deutschland einen durch die Ostsiedlungsbewegung verkörperten Kulturkolonialismus, sondern auch Polen begründete seinen Anspruch auf litauisches Gebiet vor historischem Hintergrund mit dem Argument kultureller Überlegenheit. Conrads Arbeit zeigt, wie der Gedanke des reinen Nationalstaates bzw. des Rechts der politischen Dominanz einer tragenden Staatsnation selbst bei Gewährung einer Minderheiten-Autonomie im gesamten ostmitteleuropäischen Raum zu extremem Nationalismus pervertierte. Dieser hypertrophe Nationalismus war beileibe nicht nur ein Phänomen der Staatsgründung oder der Demografie, sondern des außenpolitischen Machtgebarens, wie es seinen Ausdruck in der Rivalität zwischen Warschau und Prag um die Vormachtstellung in Ostmitteleuropa fand.

Die vom Autor gewählte Methode der mehrnational vergleichenden „forschenden Synthese“ führt, so viel sei resümierend festgehalten, zu neuen Erkenntnissen über das von vielen Interdependenzen geprägte Gründungsgeschehen der Zweiten Polnischen Republik. Wir wissen jetzt mehr über die historischen Hintergründe der Belastungen, denen sich Polen in der Zwischenkriegszeit im Spannungsverhältnis von nationalstaatlicher Selbstfindung und außenpolitischen Zwängen ausgesetzt sah. Wir erfahren aber auch von politischen Hypotheken, die Polen zur „Finanzierung“ seiner Staatswerdung selbst aufgenommen hat. Was die beiden Lager der polnischen Entscheidungsträger, personifiziert durch Dmowski und Piłsudski, anbelangt, so erhalten sie in der Dissertation lediglich einen Bonus für die auf Grund politischer Arbeitsteilung erzielte Leistung der Etablierung des Staates. Während der eine in Paris die Anerkennung als außenpolitischer Sprecher erfuhr, genoss der andere den Respekt des Staatsoberhauptes. Conrad muss das hohe Verdienst angerechnet werden, einen vielschichtigen Inhaltsstoff auf polnischer und russischer Archiv- und Literaturgrundlage analysiert und verständlich dargestellt zu haben.

Hans-Erich Volkmann, Freiburg im Breisgau

Zitierweise: Hans-Erich Volkmann über: Benjamin Conrad: Umkämpfte Grenzen, umkämpfte Bevölkerung. Die Entstehung der Staatsgrenzen der Zweiten Polnischen Republik 1918–1923. Stuttgart: Steiner, 2012. 382 S., 9 Ktn. = Quellen und Studien zur Geschichte des Östlichen Europa, 84. ISBN: 978-3-515-10908-6., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Volkmann_Conrad_Umkaempfte_Grenzen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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