Dieter Pohl Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944. R. Oldenbourg Verlag München 2008. 399 S., Abb. = Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 71.
Die Erforschung des Zweiten Weltkrieges verdichtet sich, generationenbedingter gesellschaftlicher Wissbegierde folgend, immer mehr zu einer Täter- und Opfergeschichte mit der Wehrmacht auf der Anklagebank. Deren Mitverantwortung für die Judenmorde der ihr unterstellten Einsatzgruppen in Polen, an denen Soldaten ebenso beteiligt waren wie an den zumeist von einem indoktrinierten Feindbild initiierten Gewaltaktionen gegen Einheimische, ist unbestritten. Im Ostkrieg erreichten, daran lässt Pohls Habilitationsschrift keinen Zweifel, Völker- und Menschenrechtsverletzungen in den unter der Hoheit des Militärs verbliebenen Territorien im Dreieck zwischen Leningrad, Stalingrad und der Krim eine neue Qualität. Bereits die Wehrmachtplanungen zum Russlandfeldzug bildeten ein komplementäres Element zur intendierten Rassen- und Lebensraumpolitik der NS-Führung. Die Blitzkriegstrategie, resultierend aus der vorhersehbaren Unfähigkeit, mit begrenzten materiellen und personellen Ressourcen die Truppe über eine gewisse Distanz und auf längere Dauer ausreichend mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen, besaß bereits eine verbrecherische Dimension. Denn die Ausplünderung des Landes und die Zwangsarbeit der Bewohner bei schlechter Ernährung erwiesen sich als Bestandteil logistischen Kalküls und blieben es mit wachsender Bedeutung im Durchhalte- und Verteidigungskrieg.
Der Verfasser schildert die haarsträubenden Zustände in einzelnen Lagern, in denen Kriegsgefangene nicht nur aus Mangel an Lebensmitteln und ärztlicher Betreuung, sondern durch bewusste Unterversorgung zu Hunderttausenden – die genaue Zahl ließ sich nicht ermitteln – krepierten. Von etwa 400.000 sowjetischen Offizieren erlebten nur 30–35 % das Kriegsende. Die Wehrmacht agierte gegenüber den rassisch hierarchisierten Sowjetbürgern konform zum ethnopolitischen Vernichtungsprogramm des NS-Regimes, von dem die baltische Bevölkerung am wenigsten, die großrussische am härtesten betroffen war. Pohl markiert denn auch als Haupthungerzonen das nicht eroberte Leningrad, dessen Hinterland, das Donec-Becken, die Nordukraine und teilweise die Krim. Die Wehrmacht unterstützte die Hungerkampagne des Wirtschaftsstabes Ost nicht nur um des eigenen Überlebens und der Versorgung der Heimat willen, sondern auch aus rassenideologischen Motiven.
Der Vernichtungspraxis leistete die Militärgerichtsbarkeit durch eine präventive Amnestie für Gewalttaten von Soldaten gegen die Zivilbevölkerung Vorschub. Folglich trieb die Truppe den Vormarsch mit brutaler Härte gegen die Einwohner des Landes voran, um sich Respekt zu verschaffen. Pohl differenziert zwischen den Kriegszielen in Polen, wo es um Expansion und die Liquidierung der Träger des Nationalgedankens (Politiker, Intellektuelle, Klerus) ging, und denen in der Sowjetunion. Hier trat neben die Eroberung von Lebensraum in Form der Kolonisierung die Vernichtung der personellen Verkörperung einer rassisch begründeten Weltanschauung, des so genannten jüdischen Bolschewismus. Dies rechtfertigte den weitgehend befolgten Kommissarbefehl ebenso wie den der SS gewährten Zutritt zu den Gefangenenlagern zum Zweck der Selektion und Exekution jüdischer Insassen. So erklärt sich auch die von der Wehrmacht gewünschte Sicherung der rückwärtigen Heeresgebiete durch selbständig operierende Höhere SS- und Polizeiführer, die ein flächendeckendes Vernichtungssystem installierten, das die militärische Okkupationsmacht mitbediente. Folgen wir dem Autor, dann billigten die meisten Oberkommandos und nachgeordneten Instanzen das Massenmorden von Himmlers Schergen unter der jüdischen, aber auch der sowjetrussischen Bevölkerung ,,als rassistisches Mittel zur Lösung militärischer Probleme“. Pohl registriert in den besagten Okkupationsgebieten mindestens 2 Millionen zu Tode gebrachte Sowjetbürger.
Die Wehrmacht betrachtete die Territorien als Objekte wirtschaftlicher Ausbeutung. Zunächst rekrutierte sie Männer und Frauen zu Schwerstarbeit für ihre Zwecke. Als die hohen Verluste im Osten durch einberufene deutsche Arbeiter ausgeglichen werden mussten, drohte der Arbeitsmarkt im Reich ohne Verwendung von Kriegsgefangenen und Ostarbeitern zusammenzubrechen. Pohl schildert, nach Regionen unterschieden, die rücksichtslose Zwangsverpflichtung und -verschickung zumeist weiblicher Arbeitskräfte auch mit als arbeitsfähig erachteten Kindern unter 14 Jahren, nicht selten ganzer Familien, nicht zuletzt mit der Absicht der Entvölkerung der Partisanengebiete.
Dem Verfasser ist das Verdienst zuzuschreiben, eindeutigen Befunden durch ein adäquates Vokabular Ausdruck zu verleihen, das noch zu Zeiten der Wehrmachtausstellung als wissenschaftlich unziemlich harsche Kritik erfuhr. Jetzt werden nicht nur den Einsatzgruppen, sondern auch der Wehrmacht Sklaverei und Massenmord als bewiesen zugeschrieben. Pohl rückt auch solche militärische Dienststellen und Ränge ins öffentliche Bewusstsein, die durch eigene oder fremde Imagepflege eine gewisse Tabuisierung bezüglich ihrer Verwicklung in Kriegsverbrechen genossen. Zu nennen sind der Chef des OKH, Halder, insbesondere aber der Generalquartiermeister Wagner, der im besagten Heeresgebiet quasi die Funktion des Militärbefehlshabers ausübte. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass Wagner, auch wenn Pohl das nicht so deutlich sagt, als Letztverantwortlicher für Ausbeutung und Zwangsarbeit und Mordorgien zu gelten hat. Das will schlecht zusammenpassen mit einem General, der als Mitwisser der Verschwörung des 20. Juli Selbstmord beging. Halder wie Wagner waren keine Parteigänger Hitlers, sondern wie zahlreiche Befehlshaber vor Ort Repräsentanten der konservativen Militärriege.
Das lässt den Schluss zu, dass einer selbstbewusst elitären Gesellschaftsgruppe im Dienste der Diktatur oder auch im Schatten des eigenen Ehrgeizes Moral und Sitte abhanden kamen. Pohl rückt im Endergebnis die Waffenträger einer Willkürherrschaft – Polizei, SS, SA und Wehrmacht – näher aneinander. Im kooperativen Zusammenspiel der Besatzungsherrschaft bewährten sie sich als deren willfährige Stützen. Der Autor zeichnet die im Verlauf des Krieges zunehmende Korrumpierung rechtlich-moralischen Denkens in traditionell elitären Kreisen nach. Und zu diesen zählten eben, dies ist erläuternd hinzuzufügen, auch SS, SA und Polizei ab dem mittleren Offizierskorps. Deren höheres Offizierkorps bestand in seiner Mehrheit aus Akademikern, nicht selten promovierten, die der Wehrmachtführung satisfaktionsfähig erschienen. Es waren die Juristen in der SS, die nationalsozialistisches Recht kreierten und als Einsatzgruppenführer auch praktizierten, und die Militärjuristen, die überkommenes Recht beugten und dessen Pervertierung in den besetzten Gebieten zuließen. In diesen Kontext gestellt, gewinnt Pohls Studie ihr eigentliches wissenschaftliches Gewicht.
Hans-Erich Volkmann, Freiburg i. Br.
Zitierweise: Hans-Erich Volkmann über: Dieter Pohl. Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militaerbesatzung und einheimische Bevoelkerung in der Sowjetunion 1941–1944. R. Oldenbourg Verlag Muenchen 2008. = Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 71. ISBN: 978-3-486-58065-5, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 309: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Volkmann_Pohl_Die_Herrschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)