Aleksej Miller Imperija Romanovych i nacionalizm. Ėsse po metodologii istoričeskogo issledovanija [Das Reich der Romanovs und der Nationalismus. Essay zur Methodologie historischer Forschung]. Izdat. Novoe Literaturnoe Obozrenie Moskva 2006. 241 S. = Historia Rossica.
Für „westliche“ Historiker, die zum Russländischen Imperium forschen, sind innerrussische Fehden der jungen Forschergeneration nicht immer ertragreich. Anders ist dies beim vorliegenden Buch von Aleksej Miller. Zwei Jahre, nachdem Teile der Redaktion der Zeitschrift „Ab Imperio“ einen Sammelband mit dem Anspruch herausgegeben hatten, mit der „Novaja imperskaja istorija“ eine neue Forschungsausrichtung auszurufen (2004), legt nun Miller mit einer Zusammenstellung seiner Beiträge der letzten Jahre sein eigenes Manifest zur „Novaja istorija imperii“ vor. Miller gelingt dabei mit der sich bewusst abgrenzenden Titulierung zumindest im Russischen – wie übrigens auch im Deutschen – eine glücklichere Benennung – die Bezeichnung „Imperialgeschichte“ der Ab-Imperio-Redaktion bringt die von allen gewünschte Abkehr vom alten russisch-imperialen Narrativ nicht glücklich zum Ausdruck. Davon abgesehen vereint beide Seiten jedoch grundsätzlich dasselbe Anliegen: Beide wollen den vor knapp zwei Jahrzehnten von Andreas Kappeler eingeschlagenen Weg fortsetzen, d.h. einerseits den russozentrischen Blick vermeiden und die Peripherie auch als Subjekt wahrnehmen, andererseits die selbst-zentrierten Opfer-Narrative zahlreicher ehemaliger Nationalitäten des Russländischen und sowjetischen Reiches überwinden. Beide Seiten legen Wert darauf, in ihrer neuen Imperiumsforschung neben der Vielschichtigkeit der vertikalen Ebene genauso die horizontalen Beziehungen, also die Beziehungen der vielen Ethnien untereinander sowie deren Wechselspiel mit der Zentrale, einzubeziehen.
Was aber bringt Aleksej Millers Buch trotz der im Grundsatz ähnlichen Prämissen Neues? Diese Frage stellt sich um so mehr, als hier sechs Aufsätze des Autors vereint werden, die – jetzt zwar überarbeitet – zuvor aber fast alle in der einen oder anderen Form bereits erschienen waren. Die Antwort liegt in Form und Inhalt. Tatsächlich ist es erst die Bündelung, die es ermöglicht, aus den zuvor disparat veröffentlichten und scheinbar kontextlosen Aufsätzen die Konturen einer Millerschen Imperiumsforschung herauszulesen. Im Eingangskapitel ruft der Autor dazu auf, Imperiumsforschung situativ statt regional zu betreiben, die Interaktion der Kontinentalimperien im Blick zu behalten sowie das Russländische Reich immer wieder in vergleichender Perspektive zu untersuchen. Die Umsetzung dieses Plädoyers führt Miller in den folgenden Kapiteln des Bandes überzeugend vor Augen. Besonders im Kapitel zur Sprach- und Alphabetpolitik des Russländischen Reiches wird deutlich, wie notwendig bei einem vermeintlich innenpolitischen Thema der Blick über die politischen Grenzen hinaus ist. Erst in der Verflechtung mit den jeweiligen Strategien der anderen Kontinentalimperien (Wien, Berlin, Konstantinopel) wird die Politik des Russländischen Reiches gegenüber den Polen, Deutschen oder Tataren im eigenen Land verständlich.
Gerade diese Aspekte der Verflechtungen und des Vergleichs, die über den Tellerrand des Russländischen Imperiums hinausverweisen, sind bislang viel zu wenig Gegenstand der Forschung gewesen und geben der „Millerschen“ Imperiumsforschung auch im Vergleich mit dem Sammelband der Ab-Imperio-Herausgeber ein besonderes Gesicht. Ertragreich wird zudem der Anspruch eingelöst, die Vielschichtigkeit und Komplexität imperialer Politik jenseits eines dualen Antagonismus vor Augen zu führen. Einen der spannendsten Beiträge stellt in dieser Hinsicht zweifellos die Analyse der geographischen Aneignungsdiskurse des russischen Nationalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert dar. Entgegen der in der Forschung verbreiteten Meinung, große Teile der öffentlichen Meinung hätten im 19. Jahrhundert das Territorium des ganzen Russländischen Imperiums in einen russischen Nationalstaat verwandeln wollen, zeigt Miller auf, dass im russischen nationalen Diskurs sehr wohl zwischen einem russischen Kernland und dem übrigen Raum des Imperiums unterschieden wurde.
Ein Höchstmaß an Differenzierung fordert Miller auch bei der Verwendung des Begriffes Russifizierung ein. Seine subtilen Unterscheidungen nach der Intention der Akteure, den Akteuren selbst, nach den Wechselbeziehungen zwischen den Subjekten und Objekten, nach den angewandten Methoden sowie der Antwort auf die Frage, was im jeweiligen Fall die Essenz des „Russentums“ ausmache, verfeinern um ein Vielfaches die bekannte Systematik Edward Thadens, nach der zwischen einer ungeplanten, administrativen und einer kulturellen Russifizierung zu unterscheiden ist. Obsolet wird Thadens Analyse allerdings auch mit dieser Differenzierung nicht.
Der Beitrag zum Umgang der Reichsregierung mit den Juden fällt als zuweilen recht narrative Fallstudie etwas aus dem Rahmen des Buches; Millers Aufsatz zum Begriff der „Nation“ im Russländischen Reich, der bald erscheinen wird, hätte hingegen gut hineingehört. Der Schluss ist etwas diffus und entbehrt einer klaren These. Vor allem zeigt sich in allen Beiträgen ein deutlicher Fokus auf dem imperialen Zentrum. Bei einem Band, der konzeptionell Akzente zur Imperiumsforschung setzen möchte, birgt dieser immer gleiche Fokus bei aller Differenziertheit im Vorgehen und aller Vertrautheit mit den aktuellen theoretischen Diskussionen die Gefahr, dass dem Autor eine einseitige Betrachtungsweise, vielleicht sogar eine besondere Mission für die historiographische Betrachtung der Titularnation unterstellt wird.
Gleichwohl gilt als Fazit festzuhalten, dass es dem Autor gelungen ist, in der Antwort auf die Frage nach den Methoden, wie eine moderne Imperiumsforschung aussehen kann, konkreter geworden und weiter gekommen zu sein als so manche seiner Mitstreiter auf dem Gebiet der neueren Imperiumsforschung in Ost wie West.
Ricarda Vulpius, München/Berlin
Zitierweise: Ricarda Vulpius über: Aleksej Miller: Imperija Romanovych i nacionalizm. Ėsse po metodologii istoričeskogo issledovanija [Das Reich der Romanovs und der Nationalismus. Essay zur Methodologie historischer Forschung]. Izdat. Novoe Literaturnoe Obozrenie Moskva 2006. = Historia Rossica. ISBN: 5-86793-435-7, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 4, S. 603-604: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Vulpius_Miller_Imperija_Romanovych.html (Datum des Seitenbesuchs)