Joachim Hösler Von Krain zu Slowenien. Die An­fänge der nationalen Differenzierungsprozes­se in Krain und der Untersteiermark von der Auf­klärung bis zur Revolution 1768–1848. R. Ol­denbourg Verlag München 2006. 414 S. = Südosteuropäische Arbeiten, 126.

Die von Joachim Hösler im Jahr 2004 an der Philips-Universität in Marburg vorgelegte und seit 2006 in publizierter Form vorliegende Habilitationsschrift stellt in mehrfacher Hinsicht eine Rarität dar: Es ist eher selten, dass sich deutsche Wissenschaftler bzw. Wissenschaftlerinnen mit dem für deutsche Verhältnisse eher unbedeutenden Land Krain beschäftigen, sich die slowenische Sprache aneignen, thematisch in den schwierigen Prozess der nationalen Differenzierung eintauchen und für dessen Darstellung die deutsche Sprache als Multiplikationsmedium wählen. Hösler ist es gelungen, sich dem historischen Thema interdisziplinär (Ge­schichte, Soziologie, Sprachwissenschaft) zu nähern und eine insgesamt unkonventionelle, auf reichhaltigen Quellen und mehrsprachiger Literatur basierende Abhandlung vorzulegen.

Der Titel des Buches „Von Krain zu Slo­wenien“ suggeriert eine umfassende Zusammenschau dessen, was zu Beginn und am Ende des Untertitels versprochen wird, nämlich des Beginns der nationalen Differenzierungsprozesse zwischen 1768 und 1848. Innerhalb des Untertitels findet sich die geographische Einschränkung auf Krain und die Untersteiermark.

Die Kapitel zwei bis fünf zeichnen sich insgesamt durch innovative Fragestellungen und Informationsdichte aus. Wie eingangs erwähnt, liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf dem Kronland Krain und dem südlichen Teil des Kronlandes Steiermark, nämlich der Unter­steier­mark. Während Ersteres überwiegend slowe­nischsprachig war, galt der südliche Teil des Letzteren als teilweise gemischtspra­chig. In beiden Ländern waren die Bürger der urbanen Zentren überwiegend deutschsprachig, wohingegen die Landbevölkerung und die städtischen Unterschichten slowenischsprachig waren. Im Untersuchungszeitraum verzeichneten sowohl Krain als auch die Untersteiermark infolge der napoleonischen Kriege und von Elementarereignissen zunächst einen Bevölkerungsrückgang, um in den dann folgenden Zeiten sozioökonomischer Erholung eine Konsolidierung und sogar einen Bevölkerungszuwachs zu erleben. In den „Hauptlinien der Wirtschaftsentwicklung“ betont Hösler die Dominanz der Agrarwirtschaft; er verweist auf die Bedeutung des Queck­sil­ber­ab­baus in Idrija sowie der Eisenproduktion und -verarbeitung (z.B. in Kropa) und vergleicht dann die krainischen Daten mit jenen der Steiermark bzw. Öster­reichs: Die Konzentration auf die Landwirtschaft wirkte sich insgesamt negativ auf die Industrialisierung bzw. den wirtschaftlichen Fortschritt des Landes aus. Die 77 aktiven Industriebetriebe in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts waren überwiegend im Besitz von nach Krain Zugewanderten. Das sogenannte fremde Kapital diente in der älteren slowenischen Historiographie auch dazu, es als Instrument für die Ausbeu­tung der slowenischen Bevölkerung und als Germanisie­rungs­werk­zeug zu interpretieren. Hös­ler gelingt es darzulegen, dass „fremdes Kapital“ kein krainisches Spezifikum war und dass Familien, die jahr­zehnte-, z.T. sogar jahrhunder­telang im Land lebten, nicht als landfremd bezeichnet werden können.

Den beiden Einstiegskapiteln folgen jenes über den „Widerhall der Aufklärung“ von etwa 1760 bis 1819 und jenes über den „Verschlungenen Weg zum Programm des Vereinten Slowenien“, gleichsam als Präludium für die Revolution von 1848 (5. Kapitel). Die Annäherung im Kapitel 3 erfolgt über eine Prosopographie von neun Akteuren des „nationalen Preporod (Wiedergeburt) rund um den rührigen Baron Sigismund bzw. Žiga Zois und „mancherlei Assoziationen“ (S. 118) sowie über die Darstellung der Auswirkungen, welche die französische Ver­waltung der Illyrischen Provinzen (1809–1813) zum Beispiel auf Anton Tomaž Linhart und Valentin Vodnik hatte. In erfrischender Weise charakterisiert Hösler die Teilnehmer der Zois’schen Tischrunde und dekonstruiert die dieser traditionell zugeschriebenen Verdienste für die Vereinheitlichung der slowenischen Spra­che und für die Entstehung der slowenischen Nation. Besonders gut gelingt dies bei Zois selbst oder beim international anerkannten Sprachwissenschaftler Jernej Kopitar. Die kritische Beleuchtung der Deutungsversuche von Lin­harts und Vodniks Werken stellt ein Novum dar, ebenso das Benennen und Hinterfragen von solchen unangenehmen Tatsachen wie jener, dass dem „europäisch denkenden“ Kopitar u.a. wegen seiner Kritik an der Lyrik des bedeutendsten slowenischen Dichters France Prešeren in der slowenischen Historiographie zunächst eine negative Bewertung widerfuhr, welcher dann zunächst die nationale Vereinnahmung und letztlich eine supranationale Glorifizierung folgten. Etwas konterkariert wird diese längst fällige Würdigung Kopitars durch eine unangemessen heftige Kritik an Igor Grdina und dessen Charakterisierung Kopitars (S. 107f.).

Die Darstellung des Vormärz in Krain und in der Untersteiermark (Kapitel 4) stellt nicht nur den umfangreichsten (131 Seiten), sondern auch den inhaltlich innovativ­sten Teil der Publikation dar. Hösler beschreibt, wie in Krain trotz widriger Umstände die An­al­pha­betenrate von fast 97 Prozent gegen Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich gesenkt werden konnte. Dass die ungünstige Ausgangslage u.a. mit den wenigen Schulen, fehlenden Unterrichtsmaterialien und der Unterrichtssprache, der Erfolg aber auch mit der Bereitschaft, der Schulpflicht nachzukommen, zusammenhing, wird ebenso dargelegt, wie das Phänomen, dass jene Eltern, die den späteren sozialen Aufstieg und bessere berufliche Chancen ihrer Kinder im Auge hatten, vergeblich einen zwei- bzw. einen vermehrt deutschsprachigen Unterricht forderten; der hier erwähnte Schüleraustausch mit Kärnten und der Steiermark dürfte wohl eher die Ausnahme als die Regel gewesen sein. Die Versäumnisse der welt­lichen Obrigkeit waren einerseits finanziell bedingt – Übersetzungen von Schulbüchern erschienen zu teuer –, andererseits auch durch Unkenntnis und Ignoranz. Erst gegen Ende der Zwanzigerjahre des 19. Jahrhunderts „bahnte sich Slowenisch seinen Weg in die Schulbücher“ (zitiert nach Vlado Schmidt Zgodovina šol­stva in pedago­gike na Slowenskem, Bd. 2: 1805–1848. Lju­bljana 1964, S. 196), obwohl es seit Jahrzehnten die Unterrichtssprache an den Dorfschulen (Trivialschulen) war. Nicht unumstritten ist die Behauptung, dass die nun forcierte Zweisprachigkeit teilweise von jenen bekämpft wurde, die den Unterricht erteilten, näm­lich von den Geistlichen, die in der Fortschreibung der Einsprachigkeit die Möglichkeit gesehen hätten, die bäuerliche Bevölkerung vor Unmoral, besonders aber vor Rebellion gegen die Obrigkeit zu bewahren. Die Bedeutung der von Anton Martin Slomšek ins Leben gerufenen Sonntagsschulen sowie die Entwicklung des Schulwesens (Normalschulen und Gymnasien), das angeblich sowohl eine geschlechterspezifische als auch eine gesellschaftsgruppenspezifische Seg­re­gation festschrieb, werden ebenso faktenreich und dicht dargestellt wie das Ringen um die Vereinheitlichung der Schrift (so genannter ABC-Streit), die daraus resultierende Verunsicherung und die Bemühungen, aus den regionalen Varianten die slowenische Schriftsprache zu vervollkommnen.

Den sehr positiven Zugängen zu einem schwierigen Thema beispielsweise durch Interdisziplinarität und Dekonstruktion liebgewordener historischer „Wahrheiten“ sowie durch neue Fragestellungen stehen viele, teilweise vermeidbare Fehlgriffe gegenüber:

1. Der Autor hat offensichtlich Schwierigkeiten, die krainischen und untersteirischen „Slowenen“ als Slowenen zu bezeichnen. Dies geschieht wohl in der Absicht, nicht zu ethnisieren; doch es ist einigermaßen grotesk, wenn nicht geradezu unwissenschaftlich, deshalb Slowenischsprachige affirmativ als Alpenslawen bzw. als Slowenen mit einfachen Anführungszeichen zu bezeichnen und im Gegenzug die Deutschen meist ohne Auszeichnung zu benennen, wobei die Bezeichnung deutschsprachiger Krainer bzw. Untersteirer als Deutsche österreichischer Provenienz/Herkunft zwar falsch, aber im Vergleich zu den Alpenslawen geradezu als Auszeichnung gedeutet werden kann (habemus nationem). Am einfachsten und korrektesten wäre es gewesen, konsequent von Slowenisch- oder Deutschsprachigen zu sprechen. Von Alpenslawen zu sprechen bedeutet auch, einen mittelalterlichen Begriff neu einzuführen und nachträglich unbewusst zu minimalisieren. Manchmal gewinnt man auch den Eindruck, dass der Autor deswegen konsequent den Begriff „Slowene“ vermeidet, um die Anfänge der slowenischen Nation zeitlich nicht zu früh ansetzen zu müssen. Daraus resultieren wohl auch die eigenwillig falsche Interpretation von Mi­ro­slav Hroch (Phase A und B) und die Konstruktion eines europäischen Unikums.

2. Das Fehlen von Fachbegriffen in einer Sprache (S. 153) bedeutet nicht, dass eine Sprache nicht entwickelt ist, sondern vielmehr, dass durch neue (u.a. staatliche) Erlässe und Normen auch in der Originalsprache neue Wortschöpfungen vorgenommen wurden und werden. Dieser Vorgang ist vergleichbar mit der aktuellen EU-Gesetzgebung, die in verschiedene Sprachen übersetzt werden muss, so dass viele Begriffe neu kreiert werden müssen.

3. Die teilweise herbe und überzogen formulierte Kritik an der slowenischen Historiographie, im Kern manchmal zutreffend, ist oberlehrerhaft, manchmal auch beleidigend formuliert. Man stelle sich das umgekehrt vor!

Wie eingangs erwähnt, liegen die Stärken dieser Monographie, für die reichhaltig Quellen und Literatur herangezogen und ausgewertet wur­den, in der Wahl des Themas, im unkonventionellen und interdisziplinären Zugang sowie in der spannenden Darstellung. Über die Schwä­chen, für die nur pars pro toto angeführt werden konnte, vermögen sie nicht hinwegzutäuschen.

Marija Wakounig, Wien

Zitierweise: Marija Wakounig über: Joachim Hoesler: Von Krain zu Slowenien. Die Anfaenge der nationalen Differenzierungsprozesse in Krain und der Untersteiermark von der Aufklaerung bis zur Revolution 1768–1848. R. Oldenbourg Verlag Muenchen 2006. = Suedosteuropaeische Arbeiten, 126. ISBN: 3-486-57885-5, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 441-443: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wakounig_Hoesler_Von_Krain.html (Datum des Seitenbesuchs)