Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 144-146
Verfasst von: Ernst Wawra
Claudia Weiss: Das Reich der Zaren. Aufstieg, Glanz und Untergang. Stuttgart: Theiss, 2011. 175 S., Kte., zahlr. Abb. ISBN: 978-3-8062-2267-8.
Die Feststellung, dass sich ein Werk an ein breites Publikum und nicht nur an die wissenschaftliche Leserschaft richten solle, ist sicherlich keine Abwertung. Es zählt vielmehr zum Handwerk von Historikern, die sich allzu oft mit dem Vorwurf einer zu wissenschaftlichen Ausdrucksweise, vom Elfenbeinturm herab, konfrontiert sehen. So hat nun auch Claudia Weiss, derzeit Privatdozentin an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg, eine Geschichte über „Das Reich der Zaren“ vorgelegt, welche sich vornehmlich einem breiten Leserkreis zuwenden möchte.
Der Titel verspricht eine Geschichte über „Aufstieg, Glanz und Untergang“ des Zarenreiches. Weiss möchte dabei von Herrschern, Adeligen, Intellektuellen und Bauern berichten und somit „die 370-jährige Geschichte des Zarenreiches von seiner Entstehung bis zu seinem Untergang, der die Welt veränderte“ (S. 5), erzählen, die sie von „dem Rhythmus des ‚zwei Schritte vor, einen zurück‘“ geprägt sieht (S. 5).
Die Darstellung ist in sechs Kapitel unterteilt und berichtet dem Leser episodenhaft auf knappen 168 Seiten vom Moskauer Zarenreich (Ivan IV.), von der Geburt des Petersburger Imperiums (Peter I.), der Herrschaft der Frauen (v. a. Katharina II.), vom Retter Europas (Alexander I.), dem Gendarmen Europas (Nikolaus I.), von den Großen Reformen (Alexander II.) bis hin zu den Revolutionen von 1905 und 1917 und dem damit einhergehenden Untergang des Zarenreiches. Bisweilen abrupt unterbrochen werden die jeweiligen Kapitel durch Exkurse, die Themen wie „Ikonen – die Kunst der Mönche“ (S. 28) oder die „Städte – auf ewig vom Zaren abhängig“ (S. 160) behandeln. Zum Schluss findet sich neben einer Literaturauswahl eine kurze Auflistung der „Moskauer Großfürsten und Zaren“ (S. 170–171).
Hätte ein Leser aufgrund des Titels erwartet, über „Aufstieg, Glanz und Untergang“ des Zarenreiches informiert zu werden, würde diese Hoffnung bei der Lektüre enttäuscht. Zwar löst sich Weiss vom Korsett der strengen chronologischen und genealogischen Folge der russischen Herrscher, doch überzeugt ihre gewählte Schwerpunktsetzung nicht: Denn einem Leser, der mit diesem Gebiet europäischer Geschichte weniger vertraut ist, wird nicht zwangsläufig deutlich, welcher Zusammenhang zwischen der Niederlage im Krimkrieg, den späteren „Großen Reformen“ unter Alexander II. und deren Auswirkungen auf die Soldaten und Bauern bestand. Nicht nur hier fehlt eine Begründung für die von Weiss vorgenommene Zusammenstellung.
Irritierend ist weiterhin, dass die dynastische Trennung zwischen den Rjurikiden und den Romanovs nicht deutlich erkennbar wird. Auch finden weder die Wahl des ersten Romanov zum Zaren noch der Beginn der über 300-jährigen Herrschaft des Geschlechts der Romanov (ab Peter III. Holstein-Gottorp-Romanov) eine ihrer Bedeutung entsprechende Würdigung. Unabhängig davon sollte die Darstellung des (Wieder-)Aufstiegs des Zarenreiches – nach dem Aussterben der Rjurikiden und dem Ende der „Zeit der Wirren“ – bis zu Peter I. mehr als 14 Zeilen (S. 35) umfassen.
Darüber hinaus bewegt sich der Text nicht auf der Höhe der Forschung – deutlich wird dies beispielsweise bei den Ausführungen zu Peter III. So bleibt das Bild seiner Regierungszeit immer noch den Berichten von Zeitgenossen verhaftet, von denen sich ein Großteil allzu stark von der Usurpatorin Katharina II. und ihren Tagebuchaufzeichnungen beeinflussen ließ – erinnert sei nur an die Darstellung von Michael Ranft (Die merkwürdige Lebensgeschichte des unglücklichen Russischen Kaysers Peters des Dritten […] 1773). Mittlerweile haben jedoch Elena Palmer (Peter III. – Der Prinz von Holstein, 2005) oder Aleksandr S. Myl’nikov (u. a. Imperator Pëtr III, 2001) ein differenzierteres Bild Peters III. gezeichnet.
Der Wechsel des Adressatenkreises von der fachwissenschaftlichen zur allgemeinen Leserschaft sollte darüber hinaus nicht mit einer Simplifizierung und bisweilen Entkontextualisierung historischer Ereignisse und Gegebenheiten einhergehen. Besonders tritt dies am Beispiel der Bauernbefreiung(en) zu Tage, da Weiss suggeriert, dass diese als einmaliger Akt im Jahr 1861 stattfanden. Eine Differenzierung zwischen Guts-, Kron- und Staatsbauern nimmt sie ebenso wenig vor, wie eine kurze Rekonstruktion des mehrstufigen Prozesses, der erst am 24. November 1866 mit der Befreiung der Staatsbauern ein vorläufiges Ende fand.
Unverständlicherweise ist bei der knappen und unkommentierten Auflistung der weiterführenden Literatur eine starke Konzentration auf Sibirien festzustellen. Zudem fehlen wichtige Überblickswerke, erwähnt seien Lindsey Hughes (The Romanovs, 2008) oder Matthias Stadelmann (Die Romanovs, 2008).
Der Zugang zur russischen Geschichte wird durch die große Anzahl der zumeist farbigen und ganzseitig abgedruckten historischen Gemälden und Fotografien erleichtert, selbst wenn die Bildunterschriften eine tiefergehende Reflexion vermissen lassen (v. a. S. 17 oben, S. 19 oder S. 144). Auch wenn Weiss den bisher vorliegenden Darstellungen nur bedingt etwas ‚Neues‘ hinzufügen kann, bietet „Das Reich der Zaren“ alles in allem für den interessierten Laien eine (aller)erste Einführung in die Geschichte des russischen Zaren- und Kaiserreiches.
Zitierweise: Ernst Wawra über: Claudia Weiss: Das Reich der Zaren. Aufstieg, Glanz und Untergang. Stuttgart: Theiss, 2011. 175 S., Kte., zahlr. Abb. ISBN: 978-3-8062-2267-8., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wawra_Weiss_Zaren.html (Datum des Seitenbesuchs)
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