Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 2

Verfasst von: Claudia Weber

 

Florian Keisinger: Unzivilisierte Kriege im zivilisierten Europa? Die Balkankriege und die öffentliche Meinung in Deutschland, England und Irland 1876–1913. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn [usw.] 2008. 201 S. = Krieg in der Geschichte, 47. ISBN: 978-3-506-76689-2.

Das Buch „Unzivilisierte Kriege im zivilisierten Europa?“ basiert auf einer Dissertation, die der Historiker Florian Keisinger im Rahmen des Tübinger Sonderforschungsbereiches „Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ verfasst hat. Aus dem Sonderforschungsbereich sind in den letzten Jahren einige innovative Studien zur Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des Krieges hervorgegangen, und es spricht für den methodischen und fachlichen Weitblick, dass Ost- und Südosteuropa dabei nicht nur als gewaltversessene exotische Randregionen betrachtet wurden. Im Gegenteil, dieses Image wissenschaftlich zu hinterfragen, ist ein Anliegen des Autors. In seinem Buch untersucht Florian Keisinger die westeuropäische mediale Berichterstattung über die Balkankriege des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die gemeinhin als besonders gewaltintensiv im Sinne einer den ius in bello widersprechenden Kriegsführung wahrgenommen wurden. Den Stereotyp des gewaltverliebten, allenfalls ‚halbzivilisierten‘ Balkan hat die US-amerikanische Historikerin Ma­ria Todorova vor einiger Zeit in einer viel diskutierten Studie als Teil des mental map des Westens gekennzeichnet, das Form und Inhalte eben aus jener kriegerischen Periode des imperialen Zerfalls und des nation building der südosteuropäischen Völker bezog (Maria Todorova Imaging the Balkans. New York, Oxford 1997). Keisinger widerspricht der These Todorovas mit der Analyse einer vielschichtigen Kriegsberichterstattung in Großbritannien, Deutschland und Irland, die, so sein Argument, keinesfalls homogen war und so auch kein festgefügtes, exklusiv pejoratives Balkanbild prägen konnte. Am Beispiel der drei Länder und ihrer Presselandschaften geht es ihm um die Darstellung einer Berichterstattung, die den Zerfallsprozess des Osmanischen Reiches zunächst übereinstimmend als ein europäisches Problem begriff (Teil II, Kapitel 4). Davon ausgehend jedoch produzierten die Journalisten vor Ort, die, meist in den hauptstädtischen Salons ausharrend, nur selten das militärische Kampfgeschehen beobachteten, zusammen mit den Heimatredaktionen Bilder des Krieges, in denen sich stets eigene politische Interessen brachen. Die Kommunikation zwischen den südosteuropäischen Kriegsschauplätzen, den Journalisten vor Ort und den Redaktionen steht im Mittelpunkt des ersten Buchteils.

Im zweiten Teil vergleicht Florian Keisinger die Kriegsberichterstattung in der englischen, irischen und der deutschen Presse, wobei hier, so sein Fazit, Grenzlinien weniger national definiert waren, sondern vielmehr entlang politischen Orientierungen verliefen. Während etwa konservative englische, deutsche und irisch-unionistische Blätter lediglich Reformen im Osmanischen Reich anmahnten und für den Status Quo plädierten, forderten britische Liberale und irische Nationalisten die nationalstaatliche Neuordnung Südosteuropas. Diesem Muster folgte auch die Beschreibung der Kriegsgräuel und Gewalttaten, der das sechste Kapitel gewidmet ist. In Abhängigkeit von der politischen Befindlichkeit wurden, wie im liberalen „Manchester Guardian“, die „türkischen Horden“ (Turkish hordes, S. 109) für Gräueltaten gegenüber der christlichen Bevölkerung verantwortlich gemacht. Die deutsche und englische konservative Presse dagegen berichtete während des Zweiten Balkankrieges 1913 von den entsetzlichen Grausamkeiten bulgarischer und serbischer Verbände, wobei die Brutalität der Freischärler und irregulären Banden stets besonders betont wurde. So schlussfolgerte die „Vossische Zeitung“ aus den Berichten über serbische Gräuel, dass „das Zeitalter der Aufklärung für den Balkan noch lange nicht angebrochen [ist], die wildeste Barbarei herrscht dort noch, nun bietet der Krieg Gelegenheit, Europa darüber aufzuklären.“ (S. 124). Florian Keisinger gelingt es eindrucksvoll, ein facettenreiches Bild der westeuropäischen Kriegsberichterstattung zu entwerfen und dessen politische Motive offenzulegen. Ob damit aber die Infragestellung des von Todorova gezeichneten mental map einhergeht, bleibt anzuzweifeln. Vielmehr scheint das Buch über den Umweg der Ausdifferenzierung Todorova zu bestätigen. Sicher war die Kriegsberichterstattung facettenreich. Im Bild vom unzivilisierten und gewalttätigen Balkan aber besaß sie, unabhängig davon, ob die Bulgaren oder die Türken als üble Bösewichte galten, einen gemeinsamen Nenner. Auch die irische Presse, die der Autor aufgrund der parallelen nationalen Bestrebungen in die Analyse aufgenommen hat, griff die Bilder des gewaltbereiten Balkans auf. Im Unterschied zu den europäischen Großmächten Deutschland und Großbritannien freilich wurde die Gewalt hier zur Nachahmung empfohlen und als Vorbild dargestellt. Das Image aber blieb dasselbe.

Claudia Weber, Hamburg

Zitierweise: Claudia Weber über: Florian Keisinger: Unzivilisierte Kriege im zivilisierten Europa? Die Balkankriege und die öffentliche Meinung in Deutschland, England und Irland 1876–1913. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn [usw.] 2008. 201 S. = Krieg in der Geschichte, 47. ISBN: 978-3-506-76689-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Weber_Keisinger_Unzivilisierte_Kriege.html (Datum des Seitenbesuchs)

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