Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), H. 3, S. 478-479

Verfasst von: Gerhard Wettig

 

Der Kreml und die deutsche Wiedervereinigung 1990. Interne sowjetische Analysen. Dokumente. Hrsg. von Stefan Karner / Mark Kramer / Peter Ruggen­thaler / Manfred Wilke. Berlin: Metropol, 2015. 372 S. = Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz, Wien, Raabs, Sonderband 16. ISBN: 978-3-86331-254-1.

Dieser Dokumentenband setzt die von denselben Herausgebern publizierte Edition Der Kreml und die Wende in Osteuropa 1989 fort, enthält neue Archivalien und andere Unterlagen aus den Schaltzentralen der UdSSR, etwa Tagebuch-Notizen politischer Berater, darüber, wie die maßgebenden Akteure – Kremlchef Gorbačev, US-Präsident Bush, Bundeskanzler Kohl, der französische Staatspräsident Mitterrand und die britische Premierministerin Thatcher – interagierten und entschieden. Daneben wird deutlich, wie sich Vertreter der marginalisierten Seiten – der bankrotten DDR bzw. ihres kommunistischen Regimes und der sozialdemokratischen Opposition in der Bundesrepublik – dazu verhielten. Im Mittelpunkt stehen jedoch die internen Vorstellungen und Erwägungen in Moskau.

Gorbačev suchte in der Sicherheitspolitik und Abrüstung eng mit dem Westen, vor allem den USA, zusammenzuwirken und wollte ökonomisch mit Westeuropa, insbesondere mit der Bundesrepublik, kooperieren. Als die UdSSR Anfang des Jahres 1990 in wirtschaftliche Bedrängnis geriet, verhinderte eine großzügige materielle Unterstützung aus Bonn ein Desaster. Dieses vielfache Angewiesensein auf westliche Staaten einerseits und die Zahlungsunfähigkeit der DDR, deren Probleme nur mit westdeutscher Hilfe zu lösen waren, andererseits, schränkten seine Handlungsfähigkeit ein. Das zeigte sich, als Kohl nach dem Fall der Berliner Mauer, die den Sieg der Opposition über das SED-Regime vollendete, die deutsche Einheit zum Thema machte und sofort von Bush unterstützt wurde. Es war klar, dass ein Erfolg dieser Initiative den Warschauer Pakt in Frage stellte, weil die DDR als Eckpfeiler seine Existenz sicherte. Daher wandte Gorbačev sich heftig dagegen, geriet damit jedoch in Konflikt mit genau den zwei Staaten, die er mehr als alle anderen brauchte: mit den USA und der Bundesrepublik Deutschland.

Seine Rechnung, dass die Nachbarn Deutschlands ebenfalls dagegen sein und ihm damit die Last der Gegnerschaft großenteils abnehmen würden, ging nicht auf. Kohl stieß bei einer Reihe führender westeuropäischer Politiker auf Zustimmung, so bei Delors, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, und beim spanischen Ministerpräsidenten González. Zwar verhielten sich die Regierungschefs in London und Paris zunächst ablehnend, sie sahen sich aber durch Bush dazu veranlasst, die deutsche Einheit zu akzeptieren. Dabei wurde die NATO-Mitgliedschaft als unbedingt erforderlich vorausgesetzt, denn das wichtige Land in der Mitte Europas sollte nach den schlechten Erfahrungen der Zwischenkriegszeit nicht nochmal sich selbst überlassen und als unkalkulierbarer Machtfaktor zu einer internationalen Gefahr werden. Kohl seinerseits strebte die Bindung an die atlantische Allianz an, um die Möglichkeit auszuschließen, dass sein Land erneut isoliert werde und ringsum Feinden gegenüberstehe. Diese Konstellation gab Gorbačev kaum eine Chance, sich der deutschen Einheit dauerhaft zu widersetzen, zumal die eigenen Verbündeten – vor allem die inzwischen demokratischen Führungen in Warschau, Budapest und Prag – sich gegen ihn wandten.

Daher gab er Ende Januar 1990 seinen Widerstand auf, wollte aber nur einen langsamen Wiedervereinigungsprozess zulassen, um Zeit zu gewinnen, in der, wie er hoffte, der künftige Verlust des Warschauer Pakts durch ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem kompensiert werden könne, das die beiden gegeneinander gerichteten Bündnisse ersetzen solle. Auch das war eine Fehlkalkulation. Nachdem sich Kohl geweigert hatte, die DDR nach den Wünschen Ost-Berlins und Moskaus durch massive Alimentierung noch jahrelang am Leben zu erhalten, setzte sich die Auflösung des SED-Regimes rapide fort. Die wirtschaftlich ausweglose Lage, der desaströse Exodus nach Westdeutschland, die Einheitsforderungen der Bevölkerung und ihr Votum bei der Volkskammerwahl am 18. März machten eine rasche Vereinigung unausweichlich. Zugleich bestanden außer den Westmächten und der Bundesrepublik auch Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei auf der deutschen Zugehörigkeit zur NATO. Das war ein Schock für Gorbačev, der sich nun auch in dieser Streitfrage alleingelassen sah. Der Dissens zwischen ihm und den drei ostmitteleuropäischen Staaten, die ebenso wie der Westen auf eine feste internationale Einbindung Deutschlands Wert legten und zugleich um Annäherung an die atlantische Allianz bemüht waren, machte offenkundig, dass die politische Grundlage des Warschauer Pakts brüchig geworden war.

Gorbačev sah sich genötigt, schrittweise auf ganzer Front zurückzuweichen. Seit Ende März konnte er sich der baldigen Wiedervereinigung nicht mehr widersetzen. Mitte Juli erklärte er sein Einverständnis mit der deutschen NATO-Mitgliedschaft und erhielt dafür von Kohl Zusagen bezüglich einer Stärkereduzierung der Bundeswehr. Bonn übernahm auch einen Teil der Kosten, die der UdSSR beim Abzug ihrer Truppen entstehen würden. Beim Abschluss der Verhandlungen mit den zwei deutschen Staaten im September war die Sowjetunion zusammen mit den drei Westmächte bereit, dem künftig vereinigten Land das Erlöschen aller Siegerrechte, mithin die volle Souveränität, zuzugestehen. 1991 folgte – was über den zeitlichen Rahmen dieser Dokumentation hinausgeht – die Auflösung des Warschauer Pakts, wobei der sowjetische Versuch misslang, die Vertragspartner zu künftiger Bündnislosigkeit zu verpflichten.

Eine wichtige Voraussetzung für diesen Verlauf der Ereignisse war, dass Kohl und Bush von der bis dahin üblichen Entspannungspolitik des Bemühens um die kommunistischen Regime abgingen. Sie erkannten, dass die inneren Entwicklungen, die sich in Osteuropa im Kontext von Gorbačevs Perestrojka vollzogen, eine fundamental neue Situation schufen, auf die einzugehen nötig war. Die Partner waren nicht mehr die alten Regime, denen für insbesondere materielle Konzessionen „menschliche Erleichterungen“ abgehandelt wurden, sondern die von unten aufbegehrenden Kräfte, die westliche Werte vertraten und ins westliche Lager strebten. Auf sie richteten Kohl und Bush ihr Handeln aus und erreichten damit sowohl die Wiedervereinigung als auch die Beendigung des jahrzehntelangen Ost-West-Konflikts.

Der Band enthält eine hervorragende Einleitung, die sowohl der mit dem Thema schon vertrauten Leserschaft als auch dem erstmals damit befassten Neuling das Geschehen klar und umfassend darstellt und deswegen uneingeschränkt zur Lektüre zu empfohlen ist. Die 41 neuen Dokumente ergänzen die Materialien, die bisher zum internationalen Kontext der Wiedervereinigung vorliegen (siehe Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. Hrsg. vom Bundesministerium des Innern unter Mitwirkung des Bundesarchivs unter wissenschaftlichen Leitung von Klaus Hildebrand, Hans-Peter Schwarz und Friedrich P. Kahlenberg. München 1998; siehe auch Andreas Hilger (Hg.): Diplomatie für die deutsche Einheit. Dokumente des Auswärtigen Amtes zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1989/90. München 2011; Michail Gorbatschow und die deutsche Frage 1986–1991. Hrsg. von Aleksandr Galkin und Anatolij Tschernjajew. München 2011.). Erst wenn die Forschung auch sie einbezieht, entsteht ein hinreichend umfassendes und vollständiges Bild der deutsch-sowjetischen Interaktion bei der Wiederherstellung der deutschen Einheit.

Gerhard Wettig, Kommen

Zitierweise: Gerhard Wettig über: Der Kreml und die deutsche Wiedervereinigung 1990. Interne sowjetische Analysen. Dokumente. Hrsg. von Stefan Karner / Mark Kramer / Peter Ruggen­thaler / Manfred Wilke. Berlin: Metropol, 2015. 372 S. = Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz, Wien, Raabs, Sonderband 16. ISBN: 978-3-86331-254-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wettig_Karner_Der_Kreml_und_die_deutsche_Wiedervereinigung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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