Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 314-316

Verfasst von: Gerhard Wettig

 

Igor Lukes: On the Edge of the Cold War. American Diplomats and Spies in Postwar Prague. New York, NY: Oxford University Press, 2012. XII, 279 S., Abb. ISBN: 978-0-19-516679-8.

Lukes, der als Historiker tschechischer Herkunft an der renommierten Boston University lehrt und sich bereits mit anderen Werken einen guten Ruf erworben hat (siehe vor allem Igor Lukes Czechoslovakia between Stalin and Hitler. The Diplomacy of Edvard Beneš in the 1930s. New York, Oxford 1996), wendet sich mit diesem Buch der Entwicklung der ČSR nach dem Zweiten Weltkrieg zu und schöpft dabei aus einer Fülle guter Quellen: amerikanischen und tschechischen Archivdokumenten sowie vielen Interviews mit damaligen Akteuren. Den thematischen Rahmen bildet der Umstand, dass die ČSR in den ersten Nachkriegsjahren das einzige Land innerhalb des sowjetischen Machtbereichs war, in dem nicht die Rote Armee, sondern einheimische Kräfte politisch agierten und man sich zur westlichen Demokratie bekannte. In der Sicht Washingtons war sie daher der Testfall für die Möglichkeit einer kooperativen Koexistenz mit der UdSSR, welche die Anti-Hitler-Koalition der Kriegszeit fortsetzen würde. In den Mittelpunkt der Darstellung rückt die Tätigkeit des amerikanischen Botschafters Steinhardt und seiner Diplomaten sowie des US-Geheimdiensts. Das Urteil lautet, dass es auch derenvielfach geradezu unglaublicheVersäumnisse und Fehlleistungen waren, die es den Kommunisten ermöglichten, die Macht an sich zu reißen. Hätten sie die bestehenden Einwirkungsmöglichkeiten genutzt, statt das Feld den Feinden der Demokratie zu überlassen, wäre demnach die politische Entwicklung in der ČSR anders verlaufen.

Die Tatbestände, auf die sich Lukes stützt, sind gut, ja hervorragend recherchiert. An ihrer Richtigkeit kann kein Zweifel bestehen. Trotzdem ist das darauf beruhende Urteil fragwürdig. Das Bild des Geschehens, von dem ausgegangen wird, ist unvollständig, weil die Dokumente über das sowjetische Vorgehen außer Betracht bleiben. Damit fehlt der Handlungsstrang, der mehr als alles andere die Entwicklung in der ČSR bestimmt hat. Wie sehr dies der Fall war, wird nicht deutlich, wenn man nur die tschechischen Quellen in den Blick nimmt. Die UdSSR griff in der ČSRanders als sonst in ihrem osteuropäischen Machtbereichfast nie direkt ein, sondern setzte bei der Verfolgung ihrer Ziele im Land einheimische Kräfte ein. Stalin stützte sich in erster Linie auf Präsident Beneš, der schon in den dreißiger Jahren mit ihm begonnen hatte zu kooperieren und 1938 bei seiner Abreise aus Prag wegen der von den Westmächten erzwungenen Abtretung des Sudetenlandes sowjetische finanzielle Hilfe erhalten hatte (Pavel Sudoplatov Specoperacii. Lubjanka i Kremľ, 1930–1950 gody. Moskva 1998, S. 140–141, 367; V. V. Marina Čechoslovacko-sovetskie otnošenija v diplomatičeskich peregovorach 1939–1945 gg., in: Novaja i novejšaja istorija [2000], 4, S. 144–151, hier S. 146).

Als Chef der tschechoslowakischen Exilregierung in London bemühte sich Beneš nachdrücklich um politischen Rückhalt bei Stalin für seinen Plan der Vertreibung der Sudetendeutschen, der vor allem bei den Briten auf erhebliche Vorbehalte gestoßen war. Als Gegenleistung versprach er bedingungslose Unterordnung in allen außen- und sicherheitspolitischen sowie militärischen Fragen und war bereit, alle Forderungen der Kommunisten zu erfüllen. Dabei ging er von der illusionären Erwartung aus, dass Stalin und die kommunistische Partei, über deren Moskauer Lenkung er sich klar war, sein Entgegenkommen mit der Respektierung der demokratischen Ordnung honorieren würden. Damit überließ er faktisch dem Kreml die innenpolitischen Entscheidungen. Dieser wahrte zunächst die demokratische Fassade, um die Zielsetzung zu verschleiern. Erst Anfang 1948 war der Punkt erreicht, an dem Stalin einen Putsch mit direkter sowjetischer Beteiligung für nötig hielt. (Näheres bei Gerhard Wettig Beneš, Stalin, die Vertreibung der Deutschen und die Sowjetisierung der Tschechoslowakei, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung [2013], S. 57–89.)

Vor diesem Hintergrund war der geradezumetaphysische Glaube an Beneš“, den Lukes bei den Amerikanern allseits feststellt, ebenso fehl am Platze wie die zunächst generelle Neigung in Washington zur Nachgiebigkeit gegenüber der UdSSR, deren Kooperationswilligkeit in der Nachkriegszeit man auf diese Weise gewährleisten wollte. Aber auch wenn die USA die Lage in der ČSR realistisch eingeschätzt hätten, wären sie kaum in der Lage gewesen, die mit dem Segen des überall als Führer des Landes anerkannten Präsidenten eingeleitete Entwicklung zu stoppen und umzukehren, zumindest nicht, nachdem Eisenhower auf sowjetisches Ersuchen hin seine Truppen an derwie Lukes deutlich macht: mühelos möglichenEroberung der Hauptstadt Prag und weiter Teile des östlichen Böhmens gehindert hatte. Aufgrund dieses Verzichts konnte die UdSSR am Zentrum der staatlichen Macht gewährleisten, dass niemand den Kommunisten bei der Schaffung der Machtstrukturen entgegentrat, welche die demokratische Ordnung unterminierten. Lukes hat in diesem Zusammenhang herausgefunden, dass, was man bisher nicht wusste, sich Beneš daran ungewollt beteiligte. Nachdem er, wie schon aufgrund neuerer Untersuchungen klar war, unnötigerweise den Weg nach Prag über Moskau genommen, auf jede Begleitung seiner Leute verzichtet und in der slowakischen Stadt Košice die ihm vorgelegte Regierungserklärung unterzeichnet hatte, nahm er nicht nur die totale geheimdienstliche Isolierung von der Außenwelt widerstandslos hin, sondern folgte auch der Weisung aus dem Kreml, die Weiterreise nach Prag länger zu unterbrechen. Dies und die Schwierigkeiten, welche die UdSSR als die in der Hauptstadt bestimmende Macht den Mitgliedern seiner Exilregierung bei der Rückkehr bereitete, sorgten dafür, dass die Kommunisten reichlich Zeit erhielten, um die Dinge in ihrem Sinne festzuzurren.

Auch in anderer Hinsicht bringt das Buch Fakten, die den von sowjetischer Seite eingeleiteten Kurs der Transformation zur kommunistischen Parteidiktatur beleuchten. Das betrifft etwa dievon der amerikanischen Botschaft mit Erstaunen notierteNationalisierung der größeren Industriebetriebe, des Bankwesens, der Energiewirtschaft, des Bergbaus usw. – insgesamt ein Schritt, der die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt zu mehr als zwei Dritteln in die Hand linker, zumeist kommunistischer Funktionäre brachte und auch die davon nicht erfassten Betriebe in Abhängigkeit versetzte. Dadurch verloren nicht nur das Großbürgertum, sondern auch weite Teile der städtischen Mittelschichten ihre materielle Grundlage. Die gleiche Ausrichtung bestimmte auch die Durchführung der Währungsreform. Diese Maßnahmen gehörten zu dem Transformationsprogramm, das der Kreml, vom Sonderfall Österreich abgesehen, für alle von der Roten Armee eroberten Gebiete vorgesehen hatte, die also auch in den Ländern durchgeführt wurden, in denen die sowjetischen Militärbehörden und Geheimdienste die Macht unmittelbar ausübten.

Erleichtert wurden die auf Systemwandel abzielenden Aktivitäten durch die heftige antideutsche Stimmung im Lande. Die Furcht vor einer Wiederholung der Erfahrungen mit dem NS-Regime wurde von den Kommunisten erfolgreich für ihre Zwecke instrumentalisiert. Diesofort eingeleiteteVertreibung der Sudetendeutschen rief allgemeine Zustimmung hervor, weil man mit den Angehörigen des Volkes der NS-Verbrecher nicht weiter in einem Staat zusammen leben wollte. Die damit verbundene Konfiskation des Eigentums derAusgesiedelten“ verschaffte den kommunistischen Funktionären Macht, die ihnen sowohl eine starke materielle Basis als auch die Möglichkeit einbrachte, Klienten für deren Gefolgschaft zu belohnen. Unpopuläre Maßnahmen wurden mit dem Argument gerechtfertigt, dass sie zur Abwehr dernach wie vor als bestehend angesehenendeutschen Gefahr unerlässlich seien. Während die sowjetische Seite in den von ihr besetzten Gebieten den nicht seltenen Ausschreitungen gegenüber den Sudetendeutschen positiv gegenüberstand, geboten ihnen die Amerikaner in den Westgebieten der ČSR zumindest keinen Einhalt. Botschafter Steinhardt, der die Vertreibungen für richtig hielt, stritt in seinen Berichten nach Washington die verschiedentlich an den Deutschen verübten Massaker ab oder suchte sie doch zu verharmlosen. Zudem verhinderte er die Weiterleitung eines Berichts darüber, den ein amerikanischer Offizier als Augenzeuge verfasst hatte.

Wenn man die überaus wichtigen und interessanten Forschungsergebnisse von Lukes durch die Erkenntnisse von anderer Seite über die Rolle von Beneš ergänzt, ergibt sich ein umfassendes Gesamtbild der politischen Entwicklung in der ČSR von 1945 bis 1948. Diese wurde von dem Präsidenten in dem Sinne entscheidend bestimmt, dass er Stalin und dessen Kommunisten mit seinem erfolgreichen Bemühen um Präsenz der Roten Armee und mit seiner Autorität im In- und Ausland die Möglichkeit verschaffte, Herrschaft und System der UdSSR in der ČSR zu etablieren. Wie Lukes darlegt, täuschte er sich, als er glaubte, die Dinge in der Hand zu haben: Er saß allein auf dem Prager Hradschin und stieß zwar, wenn er Reden im Land hielt, auf begeisterte Zustimmung, hatte aber kaum Einfluss auf die Tätigkeit der Parteien. Die Kommunisten gebärdeten sich namentlich seit Erringung der relativen Mehrheit bei den Wahlen von 1946 zunehmend selbstherrlich und drängten die anderen Parteien immer mehr beiseite. Als diese im Herbst 1947 von Beneš Hilfe erwarteten angesichts von Rechtsbrüchen, die auf ihre Ausschaltung abzielten, blieb der Präsidenten untätig und war auch während des Putsches im Februar 1948 nicht zum Handeln bereit. Schließlich sah er sich nach einem sowjetischen Erpressungsmanöver zum Rücktritt genötigt (Pavel Sudoplatov Spec­operacii, S. 383–385, 476). Das Ergebnis der Kollaboration mit der UdSSR war daher neben der gewünschten Vertreibung der Sudetendeutschen nicht nur die völlige außen- und sicherheitspolitische sowie militärische Unterordnung der ČSR unter den Willen des Kremls, sondern auch die uneingeschränkte Sowjetisierung des Landes, die Beneš nicht gewollt, aber herbeigeführt hatte.

Gerhard Wettig, Kommen

Zitierweise: Gerhard Wettig über: Igor Lukes: On the Edge of the Cold War. American Diplomats and Spies in Postwar Prague. New York, NY: Oxford University Press, 2012. XII, 279 S., Abb. ISBN: 978-0-19-516679-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wettig_Lukes_On_the_Edge_of_the_Cold_War.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2015 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg and Gerhard Wettig. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.