Peter Ruggenthaler (Hrsg.) Stalins großer Bluff. Die Geschichte der Stalin-Note in Dokumenten der sowjetischen Führung. R. Oldenbourg Verlag München 2007. 256 S. = Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 95.

Zu der alten Streitfrage, ob die Stalin-Note vom 10. März 1952 ein echtes Angebot war, mithin auf eine demokratische Vereinigung bei neutralem Status abzielte, legt – nach einigen schon vorher publizierten Unterlagen des sowjetischen Außenministeriums (ediert von Wilfried Loth in: Jürgen Zarusky (Hrsg.): Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Neue Quellen und Analysen. München 2003, S. 63–115 [=Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 84]) – nunmehr Peter Ruggenthaler eine Veröffentlichung vor, die mit 141 Akten des zentralen Parteiapparats in Moskau die Vor-, Begleit- und Nachgeschichte umfassend dokumentiert und mit einer klar formulierten Einleitung überzeugend interpretiert. Die hier gebotenen Archivalien aus dem Nachlass Molotovs, der damals als Sta­lins Berater die außenpolitischen Fäden in der Hand hielt, machen ein weiteres Mal deutlich, dass die Rede von dem angestrebten „einheitlichen demokratischen und friedliebenden“ Deutschland nicht in westlichem Sinne gemeint war (wie denn auch diese Attribute stets der UdSSR, der DDR und anderen sozialistischen Staaten, nie aber einem westlichen Land galten). Der Befund stimmt mit meinen Erkenntnissen zu Entstehung und Kontext der Note (Ger­hard Wettig Die Deutschland-Note vom 10. März 1952 nach sowjetischen Akten, in: Die Deutschlandfrage von der staatlichen Teilung Deutschlands bis zum Tode Sta­lins. Berlin 1994 [=Studien zur Deutsch­landfrage, 13], S. 281–296) und zur Entwicklung der sowjetischen Politik ge­genüber der DDR (Gerhard Wettig Vorgeschichte und Gründung des Warschauer Paktes, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift, 64 [2005] 1, S. 151–176, hier S. 159–165]) überein. Die von Wilfried Loth nach wie vor vertretene gegenteilige Ansicht (Wilfried Loth Die Sowjetunion und die deutsche Frage. Studien zur sowjetischen Deutschlandpolitik. Göttingen 2007) hält der Kritik nicht stand (siehe mei­ne Besprechung in: Deutschland Archiv, 5/2007, S. 952f.).

Aus den Molotov-Dokumenten geht hervor, dass der Anstoß zur Note von der SED-Führung kam, die sich mit der erwarteten westlichen Ablehnung ein propagandistisches Alibi für die bevorstehende Abkehr von der Vereinigungsparole und für den damit verbundenen Kurs der Vollsowjetisierung beschaffen wollte. Molotov war von der Westaufklärung darüber informiert, dass die Westmächte zu diesem Zeitpunkt keinesfalls auf den Vorschlag von Deutschland-Verhandlungen eingehen würden. Er riet Stalin zu und sorgte dafür, dass die Bedingungen für eine Wiedervereinigung so formuliert wurden, dass bei den Regierungen im Westen von vornherein kein Interesse aufkam. Zugleich aber suchte man das Interesse der Öffentlichkeit dadurch zu wecken, dass man die gestellten Bedingungen hinter wohlklingenden Ausdrücken versteckte, deren Bedeutung nur geschulten Kadern klar war. Gemäß einem Anfang September 1951 von Stalin gebilligten Maßnahmenplan ließ man sich mit der Note Zeit, bis die Integration der Bundesrepublik in das westliche Bündnis (deren baldigen Abschluss Stalin fest erwartete) nahezu perfekt schien, und wartete dann noch das – freudig begrüßte – Nein der Westmächte ab, um schon am selben Tag die danach vorgesehenen Schritte einzuleiten, die unter anderem auf die Schließung der innerdeutschen Grenze, auf eine Abkehr vom bloß „antifaschistisch-demokratischen“ Kurs der DDR und auf die Transformation einer kleinen Bürgerkriegstruppe in eine für den Krieg mit dem Westen geeignete große Armee hinausliefen.

Ruggenthalers Dokumentensammlung führt den westlichen Vorschlag eines „Kurz­vertrags“ mit Österreich vom 13. März 1952 als völlig neues Moment in die Diskussion ein. Es handelte sich um eine Initiative, die, zunächst für Anfang des Jahres geplant, nur unerwarteter Umstände wegen in zeitlicher Nähe zur Stalin-Note erfolgte. So wie die UdSSR wollten auch die Westmächte die Gegenseite in den Augen der Öffentlichkeit ins Unrecht setzen. In ihrem Fall zielte das Angebot darauf ab klarzumachen, dass die Sowjetunion nicht einmal mit Österreich zur vertraglichen Aufhebung der Besetzung bereit war, obwohl sie dort kein kommunistisches Regime aufzugeben brauchte, weil ein einheitlicher demokratischer Staat schon bestand. Das entsprach der Realität: Stalin lehn­te eine entsprechende Vereinbarung über Österreich ab, weil er in ihr ein Modell sah, das für die Deutschen insbesondere im Osten attraktiv wäre und damit die Stabilität der DDR gefährden würde. Nicht zufällig entschloss sich der Kreml erst 1955, als aufgrund der gefestigten Zweistaatlichkeit keine Gefahr mehr für den SED-Staat zu bestehen schien, zum Abschluss des Staatsvertrags mit der Alpenrepublik.

Gerhard Wettig, Kommen

Zitierweise: Gerhard Wettig über: Peter Ruggenthaler (Hrsg.) Stalins großer Bluff. Die Geschichte der Stalin-Note in Dokumenten der sowjetischen Führung. R. Oldenbourg Verlag München 2007. = Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 95. ISBN: 978-3-486-58398-4 , in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 459-460: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wettig_Ruggenthaler_Stalins_großer_Bluff.html (Datum des Seitenbesuchs)