Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 59 (2011) H.4

Verfasst von: Stefan Wiederkehr

 

Claudia Kraft (Hrsg.): Geschlechterbeziehungen in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Soziale Praxis und Konstruktionen von Geschlechterbildern. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 17. bis 20. November 2005. München: Oldenbourg, 2008. 314 S., Tab. = Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum, 25. ISBN: 978-3-486-57694-8.

Der vorliegende Band vereint die Beiträge der Jahrestagung des Collegium Carolinum von 2005 und bildet zugleich die chronologische Fortsetzung der am Deutschen Historischen Institut Warschau entstandenen Sammelwerke zur Geschlechtergeschichte Ostmitteleuropas (Sophia Kemlein (Hrsg.) Geschlecht und Nationalismus in Mittel- und Osteuropa 1848–1918. Osnabrück 2000; Johanna Gehmacher, Elizabeth Har­vey, Sophia Kemlein (Hrsg.) Zwischen Kriegen. Nationen, Nationalismen und Ge­schlechterverhältnisse in Mittel- und Osteuropa 1918–1939. Osnabrück 2004). Nunmehr kann insbesondere auch dank der souveränen Einleitung Claudia Krafts zum jüngsten Band bezüglich der Geschlechtergeschichte Ostmitteleuropas nicht mehr die Rede von einem „weißen Fleck“ sein.

Als Signum der Epoche des Kalten Krieges und roter Faden, der sich durch alle Beiträge zieht, erweist sich die Emanzipationspolitik der sozialistischen Staaten, die den Frauen deutlich höhere Partizipationschancen in Bildung und Beruf eröffnete, als dies zur selben Zeit in Westeuropa der Fall war. Der Preis, den die Frauen für ihre Rolle in der Öffentlichkeit zahlten, war aber die „Doppelbelastung“ durch Beruf und Familie, da die Männer nicht in demselben Maße zusätzliche Aufgaben im privaten Bereich übernahmen und die tatsächlichen staatlichen Unterstützungsmaßnahmen im Realsozialismus für Familien hinter dem propagandistischen Anspruch zurückblieben. Zudem ist für alle hier betrachteten Länder zwischen einer ersten Phase der Sowjetisierung, in der Frauen ohne Rücksicht in männliche Rollen und männliche Berufe gezwungen wurden, und einer späteren Phase des Staatssozialismus zu unterscheiden, in der eine Rückwendung zu traditionelleren Rollenverteilungen zwischen den Geschlech­tern erfolgte.

Die Tatsache, dass die positive Diskriminierung von Frauen in Beruf und Bildung mit dem ungeliebten sozialistischen Staat konnotiert wurde, erwies sich in der Transformationsperiode als Bumerang für die Frauen, wie B. Nagy am Beispiel Ungarns zeigt. Migrantinnen hingegen, die den Ostblock durch Flucht oder Heirat verließen, machten die Negativerfahrung, dass sie in den Zielländern in familiäre Rollen zurückgedrängt wurden (A. Pető).

Die Ausweitung der Frauenrechte in Theorie und Praxis schloss eine gleichzeitige Stabilisierung der Geschlechterhierarchien nicht aus, wie vor allem die Beiträge von N. Stegmann über die Interpretation des Gleichheitspostulats in der Tschechoslowakei bis 1948, von M. Fidelis über das polnische Abtreibungsgesetz von 1956 und P. Schindler-Wisten über die Aufgabenteilung zwischen Mann und Frau in tschechischen Dissidentenfamilien deutlich machen. Auch die Analysen der Themenkreise Elternschaftsplanung und Verhütung in Frauenzeitschriften der BRD und der Slowakei (A. Šalingová), des von der Propaganda in Polen und der DDR vermittelten Bildes der sowjetischen Frau (J. Beh­rends) sowie des Einflusses bezahlter Arbeit auf weibliche Identitätskonstruktionen in der Tschechoslowakei (D. Musilová) kommen zum Resultat, dass die Einbindung der Frauen ins Erwerbsleben traditionelle Vorstellungen von Weiblichkeit und Mutterschaft nicht zum Verschwinden brachte. Vielmehr erwies sich die als harmonische Verbindung von Erwerbsarbeit und Mutterschaft beschönigte Doppelbelastung als eine neuartige Form von Diskriminierung der Frauen im Staatssozialismus. M. Mazurek, die sich mit Methoden der Soziologie und der Konsumforschung dem Phänomen der Warteschlange als räumlichem Ausdruck der Mangelwirtschaft in Polen zuwendet, arbeitet heraus, wie in der Schlange und in der zeitgenössischen Debatte über das Schlangestehen soziale Hierarchien gefestigt und aktualisiert wurden und gleichzeitig die Familie insgesamt gegen externe Autoritäten gestärkt wurde.

G. Pickhan beklagt die Ausblendung des „Macht­instinkts“ in den bisherigen Studien über die polnische Kommunistin und Schriftstellerin Wanda Wasilewska, worin sie zu Recht einen gender bias der Forschung sieht. Mit Hilfe von Lebenswegerzählungen rekonstruieren E. Z. Tóth das Schicksal von Arbeitsmigrantinnen innerhalb Ungarns sowie D. Kałwa und E. Szpak den Alltag in den staatlichen Landwirtschaftsbe­trieben der Volksrepublik Polen. Weitere The­men des Bandes sind ein Überblick über die Frauenorganisationen in der tschechischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts (K. Jechová), die „Trümmerfrauen“ in Dresden und Warschau nach dem Zweiten Weltkrieg (A.-S. Pappai) sowie die Weiblichkeitskonzepte von KP-Funktionären in der slowakischen Provinz (M. Za­vac­ká).

Die Autorinnen und Autoren bleiben in ihren Analysen durchwegs heterosexuellen Deutungsmustern verpflichtet. Will man aus dem Band Desiderate für die weiterführende Forschung über Geschlecht in Ostmitteleuropa ableiten, so ist daher zuallererst nach dem Los von Menschen, deren sexuelle Orientierung von der heterosexuellen Norm abwich, in den staatssozialistischen Gesellschaften Ostmitteleuropas zu fragen. Insgesamt jedoch handelt es sich um einen außerordentlich lesenswerten Band, der theoriegeleitete Geschlechterforschung mit innovativen Methoden wie etwa der oral history kombiniert und neue Agenden wie die Konsumforschung aufgreift.

Stefan Wiederkehr, Berlin

Zitierweise: Stefan Wiederkehr über: Claudia Kraft (Hrsg.): Geschlechterbeziehungen in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Soziale Praxis und Konstruktionen von Geschlechterbildern. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 17. bis 20. November 2005. R. Oldenbourg Verlag München 2008. 314 S., Tab. = Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum, 25. ISBN: 978-3-486-57694-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wiederkehr_Kraft_Geschlechterbeziehungen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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