Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), S. 621-623

Verfasst von: Stefan Wiese

 

Sonja Weinberg: Pogroms and Riots. German Press Responses to Anti-Jewish Violence in Germany and Russia (1881-1882). Frankfurt/Main: Lang, 2010. 243 S. ISBN: 978-3-631-60214-0

Jonathan Dekel-Chen / David Gaunt / Natan M. Meir / Israel Bartal (Hg.): Anti-Jewish Violence. Rethinking the Pogrom in East European History. Bloomington: Indiana University Press, 2010. 240 S. ISBN: 978-0-253-35520-1.

John Doyle Klier: Russians, Jews, and the Pogroms of 18811882. Cambridge: Cambridge University Press, 2011. 500 S. ISBN: 978-0-521-89548-4.

John Doyle Klier, Professor für Jüdische Studien am University College in London, starb 2007. Im vergangenen und vorvergangenen Jahr sind nun drei Bücher erschienen, die auf unterschiedliche Weise als sein wissenschaftliches Vermächtnis gelesen werden können: John Klier, der akademische Lehrer, der Protagonist wissenschaftlicher Netzwerke und der Autor großer Werke über die Geschichte der Juden im Russischen Reich des 19. Jahrhunderts.

Dass Sonja Weinbergs Dissertation von John Klier angeregt wurde, ist sofort ersichtlich. Ihr Gegenstand sind Wahrnehmungen der Pogrome von 1881 in der Presse – ein Feld, das Klier bereits für ausgewählte britische und russische Zeitungen bearbeitet hat. Bei Weinberg stehen nun vier Zeitungen aus dem Deutschen Reich im Mittelpunkt: die protestantisch-konservativen Blätter „Kreuzzeitung“ und „Norddeutsche“ (letztere stand Bismarck nahe), die katholisch-konservative „Germania“, sowie die moderate „Allgemeine Zeitung des Judentums“. Wie schrieben sie über die fast zeitgleich in Russland und dem Reich ausbrechenden Pogrome von 1881? Die Ergebnisse sind zunächst wenig überraschend: die drei konservativen Zeitungen verurteilten zwar die Gewalt, doch sparten zugleich nicht an Verständnis für die vermeintlichen Motive der Täter. Durch provokatives Verhalten, ökonomische „Ausbeutung“ und, im Falle der „Germania“, auch durch ihre angebliche Führungsrolle im Kulturkampf hätten die Juden den Unmut der übrigen Bevölkerung letztlich selbst auf sich gezogen. Die Ambivalenz gegenüber der Pogromgewalt, die schon Christhard Hoffmann als charakteristisch für den deutschen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus beobachtet hatte, findet sich also auch hier. Weinberg will zeigen, dass Vorwürfe gegen die Juden durchgehend dann deutlicher artikuliert wurden, wenn es um die Pogrome in Russland, nicht im Deutschen Reich ging. Deshalb, so Weinberg, sei es ein Irrtum, dass nur eine „zivilisierte“, Gewalt ablehnende Form der Judenfeindschaft im Kaiserreich große Verbreitung gefunden habe. Waren erst (wie bei der Berichterstattung über Russland) innenpolitische Hemmnisse beseitigt, so offenbarte sich das ‚wahre‘, schon damals der Gewalt nicht abgeneigte Wesen des deutschen Antisemitismus.

Weinbergs Arbeit weist mehrere Schwächen auf. Zunächst ist die angeblich grundsätzlich unterschiedliche Berichterstattung über die russischen und deutschen Pogrome überraschend schlecht belegt. Hier wie dort beschuldigen die drei konservativen Zeitungen, mit den jeweils für sie spezifischen Akzentuierungen, die Juden, selbst für den „sozialen Zündstoff“ der Gewalt gesorgt zu haben. Graduelle Differenzen mag es geben, eine unterschiedliche Qualität der Rechtfertigung von Gewalt wird jedoch nicht erkennbar. Diese argumentative Schwäche geht mit einer darstellerischen einher, denn immer wieder verliert die Autorin ihre eigene These aus den Augen. Statt sich zu einem dezidiert diskursanalytischen oder an Repräsentationen orientierten Ansatz zu bekennen, fragt sie immer wieder auch nach der Natur antisemitischer Gewalt, wenngleich ihre Quellenbasis, die selbst bei Zeitungen nicht über die vier genannten hinausgeht, dafür keine Grundlage bietet. Der Bezug des Kapitels über die „Allgemeine Zeitung des Judentums“ zur Frage nach den Spielräumen legitimatorischen Sprechens über Pogromgewalt bleibt unklar. Und sollte Weinberg nicht auch Dr. Isaak Rülf, den Rabbi von Memel kennen (S. 214), der für die Deutung der russischen Pogrome dieser Zeit gerade in Deutschland doch eine erhebliche Rolle spielte? Weinberg hat ein Buch geschrieben, das neue Quellen erschließt und auf ihrer Grundlage die These von der ambivalenten Haltung der Konservativen zu Gewalttaten gegen Juden bestätigt. Spezialisten werden es mit Gewinn lesen.

Der aus einer Konferenz von 2005 hervorgegangene Sammelband „Anti-Jewish Violence“ will Anregungen geben, neu über die Pogrome in Osteuropa nachzudenken. In der Tat gelingt es den Autoren, mit ihren prägnanten Texten das Phänomen aus teilweise ungewohnten Perspektiven zu betrachten. Das gilt für den ersten Abschnitt, in dem die einschlägigen Autoren Eric Lohr, Peter Holquist und Nikolaj P. Buldakov die bisher vergleichsweise wenig beachteten Pogrome der Jahre 1915 und 1917 analysieren und in ihrer Eigenart zu erklären versuchen. Lohr hebt für 1915 die Bedeutung eines neuen „Wirtschaftsnationalismus“ hervor, Holquist macht hingegen den persönlichen Antisemitismus wichtiger Entscheidungsträger und die durch den Krieg neu eröffneten Gestaltungsspielräume des Militärs als maßgebliche Faktoren für die Vertreibungspolitik im besetzen Galizien von 1915 aus. Buldakov fragt nach den Korrelationen revolutionärer und anti-jüdischer Gewalt im Jahr 1917.

Der eigentliche Schwerpunkt des Bandes liegt jedoch, und hierin liegt seine Originalität, auf ausbleibenden oder beschränkten Pogromen. Damit erlaubt er eine wichtige Gegenprobe auf einschlägige Erklärungsmodelle, die ihrerseits meist anhand besonders schwerer Pogromereignisse entwickelt worden waren. So gelten modernisierungsbedingte gesellschaftliche Verwerfungen als maßgebliche Ursache der Pogrome, und tatsächlich zeigen die Artikel zu Weißrussland und Litauen, dass dort Pogrome unter anderem wegen der weniger dynamischen Entwicklung in Wirtschaft und Gesellschaft ausblieben. Andererseits kann Johnathan Dekel-Chen in seiner Studie zur Krim in der Zwischenkriegszeit zeigen, dass das Konfliktniveau dort niedrig blieb, wo jüdische und nicht-jüdische Bevölkerungsgruppen etwa in gleichem Maße von neuen Entwicklungen profitierten. Uneinigkeit herrscht unter den Autoren über die Rolle der Behörden bei den Vorkriegspogromen. Während Lilia Kalmina in ihrem Aufsatz über Sibirien den Topos von den hohen Beamten als „passiven Pogromisten“ affirmiert, schreibt Vladimir Levin in seinem bemerkenswerten Artikel über die jüdischen Strategien zur Abwehr von Pogromen, dass die Versuche, bei Staatsvertretern durch persönliche Fürsprache Gewalttaten zu verhindern, unter anderem deshalb wenig erfolgreich waren, weil die Beamten einer Erinnerung an ihren Auftrag, die öffentliche Ordnung zu bewahren, nicht bedurften. Der Band bietet mit seinen prägnanten, thesenorientierten Texten von Autoren, die bisher teilweise wenig wahrgenommenen wurden, wertvolle Anregungen für die weitere Diskussion um Pogromgewalt.

Die komplexe Geschichte der Interaktion des russischen Staates mit den Juden auf seinem Territorium – das ist das Thema, das John Klier zuallererst beschäftigte. Seine ersten beiden Monographien behandelten die Zeit von den Teilungen Polens bis ins späte 19. Jahrhundert, so dass das nun vorliegende, posthum herausgegebene Manuskript zu den Pogromen von 1881–1882 gewissermaßen den Schlussstein eines großen Gesamtwerkes bildet. Mag der Titel des Buches („Russians, Jews, and the Pogroms“) zunächst überraschen, da es sich bei den Pogromen doch um ein genuin multiethnisches Phänomen handelte, so wird der Grund für diese Wahl doch hinreichend deutlich, denn es stehen die Juden einerseits und staatliche Akteure andererseits im Mittelpunkt. Damit spielt Klier seine größte Stärke aus: Er ist ebensosehr Kenner der jüdischen wie der russischen Geschichte, und so kann er manche vereinfachende Erklärung durch Perspektivwechsel in Frage stellen. Das zeigt sich bereits im ersten Kapitel, in dem die Pogrome als Ereignisse vorgestellt werden. Das Bild von den Pogromtätern als entwurzelte bäuerliche Arbeitsmigranten aus Zentralrussland oder der Versuch der älteren Forschung, die im Südwesten stattfindenden, im Nordwesten aber ausbleibenden Pogrome mit dem Agieren der jeweiligen Generalgouverneure Drentel’n und Totleben zu erklären, hat vor Kliers Analyse keinen Bestand. Im zweiten Kapitel argumentiert der Autor gegen ökonomische Erklärungsmodelle der Pogrome. Wirtschaftskrisen gab es viele, doch Pogrome, zumal in großen Wellen, waren eine Ausnahme. Deshalb sollte die Gewalt nicht als fehlgeleiteter Sozialprotest gedeutet werden, sondern als Degradierungsritual gegen die Juden als eine im gesellschaftlichen Aufstieg begriffene Bevölkerungsgruppe. Doch warum beschützte der Staat seine jüdischen Untertanen nicht vor der Gewalt? Wer so fragt, könnte man mit Klier antworten, der kennt nicht die russischen Behörden, ihre begrenzten Kapazitäten und institutionellen Widersprüche. Die Polizei war machtlos, das Militär war auf Agrarunruhen, nicht auf einen unübersichtlichen urbanen Konflikt vorbereitet, und die Gerichtsurteile gegen die Pogromtäter fielen deshalb vergleichsweise mild aus, weil die Gesetze keine härteren Strafen erlaubten.

In den folgenden Abschnitten analysiert Klier die Wahrnehmungen der Pogrome in der russischen Presse, in der Kaufmannschaft, in verschiedenen sozialistischen Zirkeln und schließlich in den sogenannten „Ignat’ev-Kommissionen“, die auf Gouvernements­ebene über die Bedeutung der Pogrome und die „jüdische Frage“ überhaupt berieten. Waren die Berichte der Kommissionen oft als bloße Vorgeschichte der Maigesetze von 1882 wahrgenommen worden, so zeigt Klier eindrücklich, dass zwar darüber, dass die Juden in ihrer damaligen Situation ökonomischen Schaden für das Reich herbeiführten, ein übrigens auch die jüdischen Delegierten einschließender Konsens bestand, dass die daraus abgeleiteten Forderungen jedoch ein weites Spektrum aufwiesen. Bei den Maigesetzen selbst hebt Klier hervor, dass sie aufgrund handwerklicher Fehler große Deutungsspielräume zuließen, die aber auch im Sinne der Juden genutzt werden konnten und auch tatsächlich genutzt wurden. Das Buch untersucht außenpolitische Reaktionen auf die Pogrome, ihre Bedeutung als Impulsgeber für die politische Neuorientierung eines Teils der russischen Juden, insbesondere im Sinn verschiedener Emigrationsbewegungen, und die entsprechenden Debatten in der jüdischen Presse. Klier gelingt es, in jedem Abschnitt die bekannten Geschichten mit neuen Akzenten zu versehen, und doch verliert sein Buch hier an Stringenz. Er findet sie erst im Kapitel über die „alte“ jüdische Politik wieder. Die Forschung hatte sich bislang so sehr auf die „neuen“ Formen des Protozionismus und Sozialismus mit ihren neuen Trägerschichten konzentriert, dass die traditionelle jüdische Elite nur im Sinn einer Kontrastfolie Platz in den Darstellungen fand. Klier zeigt aber überzeugend, dass der Sankt-Petersburger Zirkel um Goracij Gincburg dank seiner ausgezeichneten Verbindungen in Regierungskreise in der Lage war, manche Härten der kommenden Maigesetze abzuwenden. Dass „die Geschichte der Jahre 1881-1882“ am besten als „Duell zwischen dem Gincburg-Zirkel und N. P. Ignat’ev sowie seiner Lakaien im Innenministerium“ zu verstehen sei (S. 327), ist sicherlich eine Zuspitzung; die Neubewertung des oft als bloße Wiederkehr des shtadlanut verkannten Agierens der „alten“ jüdischen Elite gehört jedoch zu den Höhepunkten dieses beeindruckenden Buches, das nun dank dem Engagement der Herausgeber posthum erscheinen konnte und in seinem Feld lange maßgeblich bleiben wird.

Stefan Wiese, Berlin

Zitierweise: Stefan Wiese über: Sonja Weinberg: Pogroms and Riots. German Press Responses to Anti-Jewish Violence in Germany and Russia (1881-1882). Frankfurt am Main [etc.]: Lang, 2010. 243 S. ISBN: 978-3-631-60214-0; Jonathan Dekel-Chen / David Gaunt / Natan M. Meir / Israel Bartal (Hg.): Anti-Jewish Violence. Rethinking the Pogrom in East European History. Bloomington: Indiana University Press, 2010. 240 S. ISBN: 978-0-253-35520-1; John Doyle Klier: Russians, Jews, and the Pogroms of 1881–1882. Cambridge: Cambridge University Press, 2011. 500 S. ISBN: 978-0-521-89548-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wiese_SR_Judenpogrome.html (Datum des Seitenbesuchs)

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