Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 142

Verfasst von: Georg Wurzer

 

Svetlana Malyševa: „Professionalki“, „Arfistiki“, „Ljubitelnicy“. Publičnye doma i prostitutki v Kazani vo vtoroj polovine XIX – načale XX veka [„Professionelle“, „Harfenspielerinnen“ und „Amateurinnen“. Bordelle und Prostituierte in Kazan in der zweiten Hälfe des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts]. Kazan: Kazanskij universitet, 2014. 187 S., Tab. ISBN: 978-5-00019-178-1.

Die Autorin, Professorin an der Kazaner Universität, hat bereits 12 Monographien, u. a. zur Fest- und Alltagskultur in der vorrevolutionären Periode ihrer Heimatstadt, vorgelegt. Im Fokus ihrer neuesten Untersuchung steht der Einfluss der Prostitution auf das soziokulturelle Leben dieser multinationalen Provinzstadt.

Im ersten Kapitel zeigt sie, dass die fraglichen Etablissements möglichst fern von den Wohnvierteln der „anständigen Bürger“ gehalten wurden. Gleichzeitig unterstützten die Behörden ihre Einrichtung mit dem Ziel einer besseren ärztlichen und polizeilichen Kontrolle der Prostituierten. Dabei weist sie auch nach – und das ist für Kazan als multinationale, damals vorwiegend russische Stadt mit einer starken tatarischen Minderheit moslemischen Glaubens besonders relevant – dass das Phänomen Prostitution sowohl was das ‚Angebot‘ als auch die Nachfrage betraf, auch eine tatarische Seite hatte, trotz aller gegenläufigen Bemühungen der moslemischen Geistlichkeit. Russische Männer suchten in der Regel russische Prostituierte auf, ebenso bevorzugten Tataren Angehörige ihrer eigenen Ethnie.

Anschließend wendet sich die Autorin der Ausstattung der Bordelle zu, die starke Kontraste zeigten und in denen es verboten war, religiöse Bilder oder solche der Zarenfamilie aufzuhängen.

Das dritte Kapitel ist von besonderem Interesse, denn es beschäftigt sich mit den Prostituierten selbst, ihrer sozialen Herkunft, ihren Motiven und ihrer nationalen Zusammensetzung (1889: 282 oder 84,7 % Russinnen; 49 oder 14,7 % Tatarinnen und 2 sonstige). Die Autorin führt die demütigenden Beschränkungen vor Augen, denen die registrierten Prostituierten unterlagen, und die verbreitete illegale Tätigkeit von „Harfenspielerinnen“ und anderen Amateurinnen. Interessant ist ihre Feststellung, dass während des Ersten Weltkrieges viele illegale Prostituierte sich als Krankenschwestern in den Lazaretten im Hinterland verdingten und es generell zu einem Anschwellen der Prostitution in Kriegszeiten kam. Wie Malyševa an verschiedenen Stellen veranschaulicht, war auch in den ersten Jahren der Sowjetzeit zumindest in Kazan die „käufliche Liebe“ noch eine sehr weit verbreitete Erscheinung.

Ebenfalls überzeugen kann der vierte Abschnitt über die Bordellbesitzerinnen, die oft viel jünger waren als die vom Gesetz verlangten 35 Jahre. Im fünften Kapitel führt sie aus, dass die Nachfrage nach den Diensten der Prostituierten nicht nur aus der Unterschicht kam, sondern auch in beträchtlichem Maße aus der Studentenschaft, in der der Besuch der Bordelle (mit Schlägereien und der Gefahr der Ansteckung mit venerischen Krankheiten) ein Teil der Rituale zur Bestätigung der Männlichkeit wurde.

Am Schluss fasst die Autorin ihre Ergebnisse nochmals konzise zusammen. In den sehr umfangreichen Anhängen werden die Quellen aus dem Nationalen Archiv der Republik Tatarstan (NART) , auf denen ihre Untersuchung hauptsächlich beruht, aufgeführt.

In der ganzen Untersuchung wird deutlich, wie profund Malyševa das vorrevolutionäre Milieu in Kazan kennt und wie vollkommen sie ihr Thema im Griff hat. Quellen unterschiedlichster Provenienz und aus einer Vielzahl von verschiedenen Fonds des NART wurden herangezogen, ebenso wie die relevante zeitgenössische Sekundärliteratur und die Publizistik des 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig verzichtet sie bewusst auf eine Darstellung der sehr umfangreichen Forschung zur Prostitution im vorrevolutionären Russland. Gerade durch ihre konsequente Beschränkung auf Kazan gewinnt ihre Studie einen besonderen Reiz.

Spezialistinnen und Spezialisten finden in diesem in einer angenehmen Wissenschaftsprosa flüssig und interessant geschriebenen sowie vorbildlich aufgebauten Werk, in dem die Routine der Verfasserin deutlich zu spüren ist, eine Vielzahl von Informationen.

Georg Wurzer, Wilhelmsdorf

Zitierweise: Georg Wurzer über: Svetlana Malyševa: „Professionalki“, „Arfistiki“, „Ljubitel’nicy“. Publičnye doma i prostitutki v Kazani vo vtoroj polovine XIX – načale XX veka [„Professionelle“, „Harfenspielerinnen“ und „Amateurinnen“. Bordelle und Prostituierte in Kazan’ in der zweiten Hälfe des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts]. Kazan’: Kazanskij universitet, 2014. 187 S., Tab. ISBN: 978-5-00019-178-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wurzer_Malyseva_Professionalki.html (Datum des Seitenbesuchs)

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