Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 107-109

Verfasst von: Georg Wurzer

 

Pervaja mirovaja vojna, Versalskaja sistema i sovremennost. Sbornik statej [Der Erste Weltkrieg, das Versailler System und die Gegenwart. Sammelband]. Otv. red. I. N. Novikova / A. Ju. Pavlov. S.-Peterburg: Izdat. SPB GU, 2012. 352 S. ISBN: 978-5-288-05279-8.

Velikaja vojna 1914–1918. Almanach Rossijskoj associacii istorikov Pervoj mirovoj vojny. Vyp. 2 [Der Große Krieg 1914–1918. Almanach der Russischen Vereinigung der Historiker des Ersten Weltkriegs. Nr. 2]. Moskva: Kvadriga, 2013. 141 S., Tab. ISBN: 978-5-91791-067-3.

Die beiden hier vorgestellten Sammelbände geben die Vorträge auf zwei Konferenzen wieder, die unter dem Titel Der Erste Weltkrieg, das Versailler System und die Gegenwart in St. Petersburg stattfanden. Die Materialien der ersten Konferenz vom 24./25. April 2009 wurden in zwei Ausgaben des Almanachs veröffentlicht, von denen hier die zweite von 2013 vorliegt. Die zweite Tagung vom 7./8. November 2011 führte zur Herausgabe des erstgenannten, bereits im Jahr 2012 erschienenen Sammelbandes. In beiden Fällen traten die Fakultät für Internationale Beziehungen der St. Petersburger Universität und die Russische Vereinigung der Historiker des Ersten Weltkriegs als Gastgeber auf, bei der zweiten Tagung im November 2011 fungierte auch noch das Institut für Allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften als zusätzlicher Veranstalter. Die Hälfte der 14 Autorinnen und Autoren des später publizierten Werkes (über die Konferenz von 2009) verfassten auch Beiträge für den erstgenannten Sammelband (über die Tagung von 2011), der insgesamt jedoch 30 Vorträge vereinigt.

Der große Verdienst des Sammelbandes, der auf die zweite Konferenz im Jahre 2011 zurückgeht, ist, dass er einen Überblick über den Stand der Erste-Weltkriegs-Forschung in Russland in ihrer ganzen Breite und Vielfalt gibt. Ansonsten scheint seine Konzeption wenig nachvollziehbar. Die Zuordnung der Aufsätze zu den sechs Abschnitten (1. Militärisch-politische Aspekte des Ersten Weltkriegs, 2. Nationale Idee und Krieg, 3. Der Erste Weltkrieg und die Gesellschaft, 4. Der Erste Weltkrieg und die internationalen Beziehungen, 5. Die Diplomatie von Versailles und 6. Die internationalen Folgen des Systems von Versailles und Washington) erscheint in vielen Fällen willkürlich und austauschbar. Einige Beiträge fallen aus dem Rahmen, so der sehr solide gearbeitete Artikel von A. A. Malygina zur chemischen Kriegsführung. Welchen Bezug der Vortrag von V. A. Karelin über die russisch-norwegischen Beziehungen 1905–1912 zum Thema des Tagungsbandes hat, blieb dem Rezensenten dagegen verschlossen. Daneben erscheint die These von D. Ju. Kozlov, dass der Seekrieg ausschlaggebend für den Ausgang des Ersten Weltkriegs gewesen sei, zumindest gewöhnungsbedürftig. Der Aufsatz von S. N. Bazanov (Die Bildung von militärischen Einheiten aus kriegsgefangenen Slaven in den Jahren des Ersten Weltkriegs) macht überdies einen oberflächlichen Eindruck. Er stützt sich im Wesentlichen auf Forschungsliteratur aus der Sowjetzeit, und an dem Patriotismus des Verfassers bleibt nach dieser Studie kein Zweifel. Schwer nachvollziehbar wirkt zudem, dass sich eine beträchtliche Zahl von Beiträgen mit ausschließlich innenpolitischen Problemen Großbritanniens beschäftigt, was disproportioniert erscheint. Die Qualität dieser Arbeiten ist aber sehr unterschiedlich. Wie Fremdkörper wirken auch die englischsprachigen Aufsätze der beiden italienischen Konferenzteilnehmer und des britischen Konferenzteilnehmers. Sie behandeln zwar interessante Themen und sind solide gearbeitet, zeigen aber in ihrer Andersartigkeit in der russischen Umgebung, wie sehr sich auch heute noch westliche und russische Historiographie im Allgemeinen unterscheiden. Jedoch kann eine ganze Reihe von Abschnitten durchaus überzeugen. So wurden von einigen Historikerinnen und Historikern aus der Provinz (I. B. Belova, D. S. Lavrinovič, S. V. Bukalova) aufschlussreiche Lokalstudien vorgelegt, die in der Regel auf umfangreiche Recherchen in russischen Archiven zurückgehen. Hierzu kann auch der Vortrag von T. V. Kotjukova (Moskau) über die Lage der Kriegsgefangenen in Turkestan 1914–1916 gezählt werden. Die Beiträge von L. V. Lan­nik und I. N. Novikova zu genuin deutschen Themen (Die deutsche militärische Elite von Compiègne bis Versailles: Soll man den Krieg beenden? bzw. Schweden in den Plänen der militärisch-politischen Eliten Deutschlands (1914–1915)) beruhen auf intensivem Studium deutschsprachiger Quellen. Bei den Altmeistern der russischen Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg wie E. Ju. Sergeev und V. K. Šacillo ist ihre Routine klar spürbar. E. Ju. Dubrovskaja entwickelt überdies in ihrer Studie über die russischen Truppen in Finnland in den Jahren des Ersten Weltkriegs einleuchtend ihren mentalitätsgeschichtlichen Ansatz.

Im Unterschied zu dem ambitionierten Sammelband von 2012 macht das zweite hier besprochene Werk, der Almanach von 2013, einen wesentlich homogeneren Eindruck. Die Kapiteleinteilung ist einleuchtender und die Beiträge sind meist umfangreicher und können deshalb auch mehr in die Tiefe gehen. Die meisten von ihnen behandeln interessante Themen und sind solide fundiert. So stützt sich der Aufsatz von S. E. Novikov (Der Kreis Weißrussland und das „Projekt Ober-Ost“. Auf der Suche nach der historischen Wahrheit) auf eine breite Quellenbasis. Allerdings muss hier einschränkend hinzugefügt werden, dass der Autor das bahnbrechende Werk von Vejas G. Liulevicius (War Land at the Eastern Front. Cambridge 2000; deutsch: „Kriegsland im Osten“. Hamburg 2002) leider nicht rezipiert hat. Auch der materialreiche Beitrag von D. Ju. Kozlov über das Thema der Marinezusammenarbeit Russlands mit seinen Alliierten am Vorabend des Krieges kann mehr überzeugen als seine Studie in dem Sammelband von 2012. Sehr negativ fällt allein der Artikel von V. A. Kotenev auf, der für die Verfolgung der Armenier im Osmanischen Reich eine abstruse jüdisch-zionistisch-armenisch-türkische Frei­maurer­theorie konstruiert. Unter der ganzen Reihe von interessanten Untersuchungen sei hier ausgerechnet die von S. N. Bazanov, der im erstbesprochenen Werk enttäuschte, über die Rolle von A. A. Brusilov bei der Bildung von Freiwilligen-Einheiten in der russischen Armee 1917 besonders hervorgehoben.

Abschließend soll festgehalten werden, dass, auch wenn sie Mängel aufweisen, die beiden hier besprochenen Sammelbände ein Muss für die Historikerinnen und Historiker darstellen, die sich über den Stand der russischen Forschung zum Ersten Weltkrieg informieren wollen.

Georg Wurzer, Wilhelmsdorf

Zitierweise: Georg Wurzer über: Pervaja mirovaja vojna, Versal’skaja sistema i sovremennost’. Sbornik statej [Der Erste Weltkrieg, das Versailler System und die Gegenwart. Sammelband]. Otv. red. I. N. Novikova / A. Ju. Pavlov. S.-Peterburg: Izdat. SPB GU, 2012. 352 S. ISBN: 978-5-288-05279-8. Velikaja vojna 1914–1918. Al’manach Rossijskoj associacii istorikov Pervoj mirovoj vojny. Vyp. 2 [Der Große Krieg 1914–1918. Almanach der Russischen Vereinigung der Historiker des Ersten Weltkriegs. Nr. 2]. Moskva: Kvadriga, 2013. 141 S., Tab. ISBN: 978-5-91791-067-3., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wurzer_SR_Erster-Weltkrieg_1.html (Datum des Seitenbesuchs)

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