Brigitte Studer, Heiko Haumann (Hrsg.) Stalinistische Subjekte. Individuum und System in der Sowjetunion und der Komintern 1929–1953. Sujets staliniens. L’individu et le système dans le Comintern 1929–1953. Stalinist Subjects. Individual and System in the Soviet Union and the Comintern 1929–1953. Chronos Verlag Zürich 2006. 555 S.

Dieses Sammelwerk ist aus den Beiträgen für eine Tagung über „Das Verhältnis von Individuum und System im Stalinismus“ im Oktober 2003 in der Schweiz hervorgegangen. Es konnte für das Projekt neben vielversprechenden jungen Nachwuchswissenschaftlerinnen von der Universität Basel eine ganze Reihe führender Stalinismus-Forscherinnen und -Forscher aus dem europäischen Raum, unter ihnen auch prominente russische Wissenschaftler, gewonnen werden; die USA waren hingegen nicht vertreten. Die Aufsätze sind in deutscher, englischer und französischer Sprache verfasst und in fünf thematische Blöcke gegliedert.

Aus der Vielzahl der Beiträge sollen hier nur einige besonders gelungene herausgegriffen wer­den. Bis auf den mehr theoretischen Text von Donald Filtzer handelt es sich um Mikrostudien, die meist auf intensiven Archivrecherchen beruhen.

Im Mittelpunkt der ersten Sektion stehen die vom Regime eingesetzten Methoden zur Loyalitätssicherung der Bürgerinnen und Bürger. Dietmar Neutatz (Freiburg) vermittelt eindringlich die Atmosphäre kriegerischer Mobilisierung, die während des Baus der Moskauer Metro herrschte. Drei französische Forscher (Jean-Paul De­pret­to, Gabor T. Rittersporn und Nico­las Werth) zeigen an konkreten Beispielen auf, dass es nicht nur Konformität, sondern durchaus auch wi­der­ständiges Handeln gab, und diskutieren die (überharte) Reaktion des Staatsapparates darauf. Ganz in einer Linie mit dieser Argumentation steht der Artikel von Donald Filtzer (East London), in dem zur Charakterisierung der Lage der Arbeiter eher der Begriff der Mole­kularisierung als der Atomisierung vorgeschlagen wird, da es durchaus noch Solidarität in kleinen Gruppen gegeben habe.

Beschäftigte sich der erste Themenblock eher mit den äußeren Techniken der Macht, die einerseits Repression und andererseits begeisternde Mobilisierung einschlossen, so hat der zweite Teil mehr die Arbeit der Kommunisten am „Selbst“ zum Gegenstand. Beispielsweise zeigt Igal Halfin (Tel Aviv) schlüssig auf, dass die meisten Leningrader Studierenden trotz gelegentlich auftretender Zweifel von der Richtigkeit der Anklagen in den Großen Moskauer Schauprozessen überzeugt waren.

Wie der Parteiapparat die Anhänger auf seine Linie ausrichtete, wird in der folgenden Sektion thematisiert. Serge Wolikow (Dijon) und José Gotovitch (Brüssel) führen am Beispiel der KPF und der KP Belgiens sinnfällig vor Augen, wie es der Moskauer Zentrale gelang, selbst KPs in demokratischen Staaten auf ihr Vorbild einzuschwören. Die Führungsspitzen dieser Parteien hatten nämlich das Dogma der Parteidisziplin bereits so sehr verinnerlicht, dass sie auch ohne äußeren Zwang die Weisungen des Kreml sklavisch befolgten, wenn sie diese nicht gar übererfüllen wollten.

Die Beiträge in der vierten Sektion, die Lebensräume und Lebensentwürfe im Schatten der Macht zum Gegenstand hat, sind von besonderem Interesse. Hier zeigen die Autorinnen, wie die stalinistische Utopie auf die Resistenz der Subjekte stieß, die ihre aus Sicht der Parteiführung allzu menschlichen Bedürfnisse wie das nach Zerstreuung und Amüsement befriedigen wollten. Trotzdem hatten selbst die demonstrativ nichtkonformistischen „Stiljagi“, die eine an westlichen Mustern orientierte Jugendkultur zelebrierten, die Werte der Partei weitgehend verinnerlicht, wie Juliane Fürst (Oxford) nachweisen kann. Allerdings erscheint fraglich, dass sich die Subkultur der „Stiljagi“ bereits unter Sta­lin in nennenswertem Umfang entfalten konnte.

Der letzte Teil des Buches setzt sich mit der Frage der Erinnerung und der Bewältigung der Gewalterfahrung auseinander. Eva Maeder (Zürich) nutzt hier vorbildlich die Methode der oral history und stellt die persönlichen Erinnerungen eines Kolchosvorsitzenden dem Zeugnis von Archivdokumenten über sein Leben gegenüber. Es wird deutlich, wie sehr die Selbstdarstellung noch von ideologischen Schablonen durchsetzt ist, wobei negative Erlebnisse ausgeblendet werden. Alternative psychologische Erklärungen für dieses Phänomen wie Ver­drän­gung von traumatischen Erinnerungen oder Ha­bi­tualisierung des in der Sowjet­union bis an deren Ende gültigen Tabus, über ei­genes Leiden zu sprechen, berücksichtigt Mae­der jedoch nicht.

Im Nachwort zeigt Jutta Scherrer (Paris) über­zeugend, wie sehr die Schattenseiten des Stalinismus in den postkommunistischen russischen Schulbüchern verschwiegen werden.

Sämtliche Beiträge bewegen sich auf einem hohen Niveau. Wünschenswert wäre ein Fazit als Schlusskapitel gewesen, in dem die verschiedenen Gedankenstränge zusammengeführt worden wären. Die meisten Autorinnen und Autoren fassen Ergebnisse ihrer schon publizierten Forschungen konzise zusammen; sie sind also schon bekannt. Wer sich daher über den Stand der europäischen Forschung zum Stalinismus als Herrschaftstechnik kundig machen will, sollte dieses Buch lesen.

Georg Wurzer, Tübingen

Zitierweise: Georg Wurzer über: Brigitte Studer, Heiko Haumann (Hrsg.) Stalinistische Subjekte. Individuum und System in der Sowjetunion und der Komintern 1929–1953. Sujets staliniens. L’individu et le système dans le Comintern 1929–1953. Stalinist Subjects. Individual and System in the Soviet Union and the Comintern 1929–1953. Chronos Verlag Zürich 2006. ISBN: 978-3-03-400736-8, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 3, S. 458-459: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wurzer_Studer_Haumann_Stalinistische_Subjekte.html (Datum des Seitenbesuchs)