Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Band 58 (2010) H. 4, S. 609–611
Dietmar Müller Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzepte 1871–1941. Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2005. 537 S. = Balkanologische Veröffentlichungen, 41. ISBN: 3-447-05248-1.
Die vorliegende Dissertation beschäftigt sich nicht mit Minderheitenproblematik schlechthin im oben angekündigten Raum- und Zeitrahmen, sondern mit der „intellektuellen und politischen Verarbeitung einer Situation des gekränkten kollektiven Ego bei der Mehrheit“ bzw. der Titularnation (S. 9) sowie mit dem Ort, den die Mehrheit einer bestimmten, zum Feindbild erhobenen und schließlich zum Sündenbock erklärten „Minderheit“ im jeweiligen „Nationscode“ einräumt. Hier werden zwei selbsternannte Titularnationen bzw. ihre Nationscodes und Staatsbürgerschaftzulassungen in kürzlich konstruierten Nationalstaaten miteinander verglichen, wobei Rumänien mehr Platz eingeräumt wird als Serbien/Jugoslawien.
Drei Faktoren trieben diese Untersuchung voran: 1. Skepsis gegenüber dem „Heilsversprechen“ des Nationalstaates „auf eine ethnisch und religiös indifferente Nationsdefinition“ sowie eine dementsprechend gestaltete Staatsbürgerschaftspolitik; 2. Erschrecktes „Staunen über das periodische Wiederauftauchen des Antiislamismus bzw. Antisemitismus in Serbien und Rumänien als Treibstoff politischer Kampagnen und kulturpolitischer Debatten“ bis in die Gegenwart und 3. die Vermutung, dass eine Nationalideologie die „Herausbildung und (das) Funktionieren einer parlamentarischen Demokratie und einer Zivilgesellschaft“ hemmen könne (S. 477).
Nach einem kurzen Kapitel über die kontrastierende Nationalstaatsbildung und die gegensätzlichen Staatsbürgerschaftskonzepte in West- und Ost-/Südosteuropa, die Holm Sundhaussen in zwei exemplarischen Beiträgen schon 1997 (Holm Sundhaussen Nation und Nationalstaat auf dem Balkan. Konzepte und Konsequenzen im 19. und 20. Jh., in: Jürgen Elvert (Hrsg.): Europa und der Balkan, Stuttgart 1997, S. 77–99) und 2001 (Holm Sundhaussen Unerwünschte Staatsbürger. Grundzüge des Staatsangehörigkeitsrechts in den Balkanländern und Rumänien, in: Christoph Conrad, Jürgen Kocka (Hrsg.): Staatsbürgerschaft in Europa. Hamburg 2001, S. 193–215) treffend beschrieben hatte, werden diese beiden Kategorien in den neuen südöstlichen Nationen vergleichend in den Fokus gerückt und umfassend, auch mit Exkursen in die Kulturgeschichte, analysiert.
Es entsprach seit der Mitte des 19. Jahrhunderts dem Nationscode Rumäniens und Serbiens, die dort lebenden Juden bzw. Muslime nicht-südslawischer Herkunft provokativ als „Anomalien“ anzusehen. Juden und Muslime verkörperten angeblich das osmanische Ordnungsmodell und jene Eigenschaften, die in hohem Maße daran Schuld trügen, dass Rumänen und Serben als „zivilisierte und moderne Nationen“ noch nicht auf dem Niveau ihrer westeuropäischen Modelle angelangt seien. Beide Gruppen wurden als unzivilisiert, unassimilierbar und für eine Inklusion in den Nationskörper unzumutbar angesehen, weil sie deren Ausgestaltung entsprechend den westlichen Nations- und Nationalstaatsmodellen hemmten. Dazu zähle insbesondere das Erstarken eines autochthonen Bürgertums und einer ebensolchen Wirtschaft. Im Fall Rumäniens handelte es sich um sog. ‚Elitendiskurse‘, die der Rückkoppelung an die Mehrheitsbevölkerung entbehrten und diese zunächst auch gar nicht suchten, was Müller treffend an Figuren wie Alecsandri, Eminescu, Haşdeu, Nae Ionescu und Nichifor Crainic herausarbeitet. Im rumänischen Nationscode, dem Nationalnarrativ, ging es um die Legitimierung von erreichtem Status, Territorialerwerb und Abgrenzung gegen ‚Fremde‛. In Serbien war der antiosmanische Nationscode dagegen offizielle Staatsideologie. Beide Nationscodes beharrten auf einer sogenannten „Wiedergutmachung historischen Unrechts“. Für letzteres standen in Rumänien alle Minderheiten, in Serbien die Muslime, insonderheit die Albaner, deren Vertreibung in den Kosovo 1878 und im Ersten Weltkrieg der Verfasser als einer „ethnischen Säuberung“ gleichkommend beschreibt. Auch hält er das Kontinuum der Akzeptanz fest, das diese beiden Nationalnarrative über mehr als hundert Jahre und nur wenig angefochten in den beiden Titularnationen genossen. Das Ausarten in Gewalt blieb nur eine Frage von Zeit und Gelegenheit.
Die Anfänge der „Jüdischen Frage“ liegen im politischen Diskurs Rumäniens um die Mitte des 19. Jahrhunderts, da eine anhaltende jüdische Immigration (meist aus Galizien) seit 1821 das ethnische Bild Altrumäniens veränderte. Die ersten Versuche einer graduellen Emanzipation der Juden sind in den Jahren 1864–1866 zu verzeichnen. Schon in der damaligen politischen Debatte wurde die „jüdische Frage“ als ein Maßstab für den Patriotismus der Politiker instrumentalisiert. Eine starke Ablehnung der Juden durch die Gesellschaft, besonders in der Moldau, wo sie viel zahlreicher als in der Walachei waren, schien diese Polemik zu rechtfertigen. In der „Jüdischen Frage“ wurden demographische Faktoren (verstärkte Auswanderung von Juden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts oder Longevität) ignoriert, das Argument der hohen Zahl von Juden gerann zum Stereotyp, das bis in die Antonescu-Ära kolportiert wurde.
Auf dem Berliner Kongress, auf dem die westlichen Mächte als Preis der Souveränität Rumäniens die Judenemanzipation verlangten, argumentierten die rumänischen Vertreter mit einem wirtschaftlichen Faktor: Der Ökonom Dionisie Pop Marţian vertrat die Meinung, dass, würde man die Juden einbürgern, sie zu einer neuen politischen Klasse aufstiegen, weil die rumänischen Grundbesitzer stark bei Juden verschuldet seien. Als Staatsbürger würden sie sich den Grundbesitz aneignen und damit politische Bedeutung gewinnen. Neben dem schon Genannten unterstützten bedeutende Träger des intellektuellen Lebens die antisemitische Bewegung in politischen und literarischen Schriften. Besonders Eminescu wurde oft von den rumänischen Antisemiten zitiert, und da er im 20. Jahrhundert zu einer mythischen Gestalt der rumänischen Kultur aufstieg, vereinnahmten ihn die Antisemiten. Nur wenige Stimmen erhoben sich zu Gunsten der Juden wie die Petre P. Carps, der Juden als ein die Konkurrenz belebendes Element ansah. Die Wortführer der Antisemiten wie der Antiosmanisten benützten ferner das Argument, auf dem Balkan eine mission civilisatrice zu erfüllen, die von den „unzivilisierten Juden/Albanern“ verhindert würde, falls man diese emanzipierte.
Nach dem Ersten Weltkrieg musste Großrumänien, widerwillig zwar, den einheimischen Juden die Staatsbürgerschaft geben. Dies war die Bedingung der Großmächte für die Anerkennung der neuen Grenzen. Die Verfassung von 1923 und das Staatsangehörigkeitsgesetz (1924) brachten in der Frage der jüdischen Minderheit eine nur vorläufige Lösung.
In einem dritten Kapitel wird der rumänische Nationscode in der Zwischenkriegszeit zwischen Oppositionsnationalismus und Zivilisationskritik untersucht. Fragen zum Verhältnis von Nation und Konfession, von Orthodoxie und Rumänentum („Orthodoxismus“), von Minderheiten und Nation sowie zur Rolle der Unierten und Katholiken in Rumänien bildeten heterogene Aspekte dieser komplexen Problematik, die den politischen Diskurs der dreißiger Jahre beherrschte. Die ideologischen Mentoren der „jungen Generation“, Nae Ionescu und Nichifor Crainic, lieferten den Antisemiten (besonders der legionären Bewegung) ein theoretisches Gerüst für ihre Argumentation.
In einem vierten Kapitel werden die politischen Parteien Rumäniens und Jugoslawiens sowie ihre Positionen in der Frage der Staatsbürgerschaft behandelt. Für Rumänien ist es nicht weiter erstaunlich, dass die politische Gleichstellung der Juden nach dem Ersten Weltkrieg, die nur widerwillig vorgenommen worden war, unter veränderten politischen Bedingungen rückgängig gemacht wurde. Zwischen 1938 und 1941, unter dem persönlichen Regime von Carol II. und der Militärdiktatur Marschall Ion Antonescus, erkannte man vielen eingebürgerten Juden die Staatsbürgerschaft wieder ab. Wenn man den Widerwillen, der nach 1848 während eines ganzen Jahrhunderts der Judenemanzipation in Rumänien entgegen gebracht wurde, betrachtet, dann ist die Zurücknahme der Staatsbürgerschaft nicht verwunderlich, sondern eher schon fast folgerichtig. Dieses war auch nicht der letzte antijüdische Akt des rumänischen Staates. Im Zweiten Weltkrieg folgten die Internierung in Arbeitslagern und die Deportation von vielen Mitgliedern dieser Gruppe aus den östlichen Landesteilen nach Transnistrien. Es war eine ‚konsequente‘ Politik, die Bukarest betrieb. Das Negativbild, Jahrzehnte lang gepflegt, verlangte nun nach Taten.
Im Ausblick erfasst der Verfasser auch die Gegenwart, in der die alten ethnisch-religiös bestimmten Nationscodes immer noch Gültigkeit beanspruchen. Der Verfasser fragt zu Recht, wie die Gesamtheit der Staatsbürger in einem mit „ethnischnationalem Vorzeichen“ versehenen Nationalstaat denn Gleichheitsrechte beanspruchen könne, wenn es Bürger erster und zweiter Klasse gebe. Individualrechte, wie die Verfassungen sie garantieren, seien dafür nicht ausreichend.
Ein ausführlicher Apparat – mit Bibliographie (wo die Trennung nach älteren und neueren Titeln etwas erstaunt) und Register – schließt diese nützliche Analyse eines der wichtigsten Aspekte der neueren Geschichte Südosteuropas trefflich ab.
Cornelius R. und Krista Zach, München
Zitierweise: Cornelius R. und Krista Zach über: Dietmar Müller Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzepte 1871–1941. Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2005. = Balkanologische Veröffentlichungen, 41. ISBN: 3-447-05248-1, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 609–611: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Zach_Mueller_Staatsbuerger_auf_Widerruf.html (Datum des Seitenbesuchs)