Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), 4, S. 686-688

Verfasst von: Martin Zückert

 

Eagle Glassheim: Cleansing the Czechoslovak Borderlands. Migration, Environment, and Health in the Former Sudetenland. Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2016. IX, 275 S., 29 Abb. ISBN: 978-0-8229-6426-1.

Die Geschichte des Wandels der tschechischen Grenzregionen im 20. Jahrhundert ist in den letzten Jahren zu einem beliebten Feld der historischen Forschung geworden. Entstanden sind zahlreiche Studien zur Geschichte der nationalsozialistischen Besetzung nach dem Münchener Abkommen, zur Vertreibung der deutschen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg und zur Wiederbesiedlung dieser Region in der Nachkriegstschechoslowakei. Aktuell richtet die Forschung zudem ein besonderes Augenmerk auf die langfristigen Folgen der Bevölkerungsveränderungen und der politischen Zäsuren für die Region. Hier setzt auch das zu besprechende Buch von Eagle Glassheim an. Sein Ziel ist es, die Auswirkungen von Zwangsmigrationen und Wiederbesiedlung für die Betroffenen wie auch für die Gesellschaft und die Umwelt der Grenzgebiete zu analysieren. Dabei fragt er insbesondere nach den Planungszusammenhängen des modernen Staates und dessen Ziel, Mensch und Natur zu formen. Das vorliegende Buch bündelt die langjährigen Forschungen des Autors zu diesem Thema. Mehrere Kapitel sind in den vergangenen Jahren in früheren Versionen als Aufsätze erschienen.

Einleitend verweist Glassheim auf eine bisher zu wenig wahrgenommene Parallelität der Entwicklung nach 1945. So wurden sowohl die Vertriebenen in Deutschland als auch die neu in die Grenzregionen kommenden Siedler vielfach als sozial und räumlich entwurzelt bezeichnet. Sowohl Publikationen aus dem Vertriebenenmilieu als auch Dissidenten in der sozialistischen Tschechoslowakei prägten dann eine Deutung, wonach diese Entwurzelung entscheidenden Einfluss auf Zerstörungen und Umweltveränderungen in der Region gehabt habe. Glassheim verdeutlicht in seinem Buch, wie wichtig staatliche Konzepte für diese Entwicklung waren. Zunächst skizziert der Autor jedoch das Geschehen in den Grenzgebieten vor 1945. Anknüpfend an neuere Forschungen betont er, dass von einer „shared history of conflict“ von Deutschen und Tschechen auszugehen ist. Die symbolische Inbesitznahme der Landschaft durch Nationalisten war dabei ein prägendes Element. Der gerade von der sudetendeutschen Bewegung schon vorher propagierte Heimatbegriff sollte sich freilich nach 1938 und der Errichtung des Reichsgaus Sudetenland als problematisch erweisen. Statt einer Förderung vermeintlich konservativer Werte, die meist im ländlichen Raum verortet wurden, setzten die Nationalsozialisten rasch auf Urbanisierung, Zentralisierung und die Ausschöpfung der vorhandenen Rohstoffe.

Im folgenden Kapitel wird das Geschehen von Vertreibung und Wiederbesiedlung kontextualisiert. Glassheim verweist zurecht auf das Problem, dass beide Vorgänge oft isoliert erforscht werden, obwohl sie vielfach ineinander übergingen. In Städten kam es etwa durch die Anwesenheit von noch nicht Vertriebenen und bereits eingetroffenen Neusiedlern zu Wohnungsnot und Versorgungsproblemen, was wiederum die Anwendung von Gewalt begünstigte. Der zeitgenössischen Rhetorik der „Reinigung“ als Begriff für die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung stellt der Autor in einen Zusammenhang mit der damals ausgeübten Gewalt. Interessante Einblicke zum Thema Vertriebene und Gesundheit bietet das dritte Kapitel. Glassheim führt hier aus, wie das Leben der Betroffenen durch Krankheiten und Epidemien geprägt war, wobei er auch auf den Begriff der „Reinigung“ zurückkommt. In großer Zahl wurden die Vertriebenen an den Grenzen der Seuchenprävention unterzogen. Zugleich verweist er auf die große Zahl seelischer Erkrankungen und zeitgenössische Versuche, diese als Depressionen aufgrund von räumlich-sozialer „Entwurzelung“ zu erfassen.

Die folgenden drei Kapitel wenden sich dann der Entwicklung der Grenzgebiete nach 1945 zu. Hier kann der Autor deutlich machen, dass es klare Zielsetzungen gab, die Region hin zu einer „sozialistischen Landschaft“ umzugestalten. Am Beispiel der Stadt Most, die wegen der Kohleförderung verlegt wurde, zeigt Glassheim die damaligen Planungen und ihre Umsetzung auf. Abschließend nimmt der Autor den Landschaftsbegriff in den Blick und fragt nach Folgen von Zerstörung und Neuformungen. Ähnlich wie bei den Vertriebenen problematisiert er auch hier die räumliche Dimension von Gesundheit und Krankheit in der Neusiedlergesellschaft, also inwieweit die Landschaftsveränderungen gesellschaftliche Folgen zeitigten. Glassheim erwähnt die Notwendigkeit, den Begriff der Nostalgie ernst zu nehmen und ihn mit einer räumlichen Komponente zu versehen. Für die weitere Entwicklung der tschechischen Grenzregionen sieht er es als wichtig an, das „Gedächtnis“ der Landschaft zu berücksichtigen und zu bewahren. Vor diesem Hintergrund verweist er auf die Initiativen der tschechischen Bürgerbewegung Antikomplex, die sich seit vielen Jahren in Ausstellungen und Publikationen intensiv mit der Geschichte der Region auseinandersetzt.

Glassheims Studie bietet neue Ansätze zur Erforschung der tschechischen Grenzregionen. Gerade die mehrfache Gegenüberstellung ihrer ehemaligen und neuen Bewohner nach 1945 eröffnet bisher zu kurz gekommene Sichtweisen. Eine Stärke des Buchs liegt auch darin, gesellschaftliche Entwicklungen mit der Veränderung von Landschaft und Umwelt in Beziehung zueinander zu setzen. Auch die Verbindung dieses Themas mit dem Gesundheitsdiskurs ist ein interessanter Ansatz, auch wenn er in der vorliegenden Studie nicht vollständig überzeugen kann. Hier hätte zum einen stärker darauf Bezug genommen werden müssen, in welchem Maße es nach 1945 Bestrebungen gab, das Thema psychische Erkrankung und Heimatverlust zu politisieren. Zum anderen handelt es sich um ein komplexes Feld, bei dem auch auf Zugänge der Medizingeschichte zurückgegriffen werden müsste, um die Dimensionen vollständig erfassen zu können.

Das vorliegende Buch bietet keine umfassende Darstellung zum Thema, dafür aber wertvolle Überlegungen und Impulse für die weitere Forschung zu einer Region, die auch weiterhin Veränderungen unterliegt. So hat der Begriff „Sudety“, der über Jahrzehnte abgelehnt wurde, weil er mit der Geschichte der dortigen Deutschen verbunden wurde, in den letzten Jahren gerade in Tschechien deutlich an Akzeptanz gewonnen.

Martin Zückert, München

Zitierweise: Martin Zückert über: Eagle Glassheim: Cleansing the Czechoslovak Borderlands. Migration, Environment, and Health in the Former Sudetenland. Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2016. IX, 275 S., 29 Abb. ISBN: 978-0-8229-6426-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Zueckert_Glassheim_Cleansing_the_Czechoslovak_Borderlands.html (Datum des Seitenbesuchs)

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