Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 61 (2013), 1, S. 132-133
Verfasst von: Raoul Zühlke
Russland, der Ferne Osten und die „Deutschen“. Hrsg. von Heinz Duchhardt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009. VI, 121 S., 5 Abb. = Veröffentlichung des Instituts für Europäische Geschichte Mainz – Beihefte, 80. ISBN: 978-3-525-10092-9.
Im ersten Augenblick denkt man, das vorliegende Buch sei nur ein schmales Bändchen, in dem die Aufsätze des sperrig klingenden deutsch-russischen Forschungsvorhabens „zum Anteil von ‚Deutschen‛ im russischen Dienst an der Erschließung des Fernen Ostens“ (vgl. S. 1) publiziert wurden, die in die Hauptpublikation nicht aufgenommen werden konnten. Dem Herausgeber, den Autoren und dem Verlag ist es aber gelungen, nicht nur einen liebevoll gestalteten, sondern auch modernen Ansprüchen mehr als genügenden Sammelband zu erstellen. Ohne Ausnahme alle Aufsätze sind – und das ist eine Seltenheit – kluge Beiträge. Sie weisen jeweils einen klaren Bezug zum gemeinsamen Oberthema auf, überschneiden sich trotz großer inhaltlicher Nähe nur im notwendigen Maße und sind über ein Personenregister gut zu erschließen. Man hat bei diesem Sammelband nicht den Eindruck, es handle sich um ein ‚Endlager‛ akademischen Gelegenheitsoutputs, sondern tatsächlich um ein Buch.
Wenden wir uns den einzelnen Beiträgen zu: Diese sind von ihrem Zuschnitt her recht unterschiedlich. Ein Umstand, der nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass die Bandbreite der Verfasser von der „frischgebackenen“ Magistra bis zum Experten der russischen Wissenschaftsgeschichte reicht. Insgesamt sind die Artikel gut aufeinander abgestimmt; allgemeine Themen stehen am Anfang, denen dann zunehmend speziellere Fragestellungen folgen. Den Auftakt bildet Christine Roll, die sich Sibirien in der Kartographie zuwendet (S. 5–29). Deutlich arbeitet sie heraus, welch ungemein großen Anteil die Kartographie bei der herrschaftlichen Durchdringung in der Frühen Neuzeit auch in Sibirien hatte. Unterstützt wird ihre Argumentation durch zahlreiche Kartenabdrucke, die zum Nachvollziehen ihrer Thesen im Druckbild hinreichend genau sind. Roll zeigt hierbei auf, dass der Einfluss bzw. Anteil „Deutscher“ in diesem Feld überschaubar war. Im zweiten Beitrag stellt Dittmar Dahlmann die Beziehungen zwischen dem Moskauer Reich und China vom 16. bis zum 18. Jahrhundert dar (S. 31–47). Dabei hebt er immer wieder die Bedeutung hervor, die Moskau dem Fernen Osten und insbesondere der Amur-Region in diesem Zusammenhang beimaß. Auf die ethnologische Forschung im Altai im 18. und 19. Jahrhundert geht im Anschluss Eugenia Massold ein (S. 49–77). Massolds Aufsatz basiert auf ihrer Magisterarbeit und zeigt auf, in welch hohem Maße in diesem Forschungsfeld deutsche Wissenschaftler tätig waren. Leider ist die Argumentation gelegentlich etwas sprunghaft; man merkt der Autorin den nachvollziehbaren Wunsch an, möglichst alle Ergebnisse irgendwie unterzubringen. Den Abschluss des Bandes bilden drei Aufsätze, die jeweils einen „Deutschen“ ins Zentrum der Darstellung rücken. Einen besonders gelungenen Beitrag liefert Diana Ordubadi, die sich mit Carl Heinrich Mercks Tätigkeit im Rahmen der Billings-Saryčev-Expedition beschäftigt (S. 79–96) und aufzeigt, wie sehr Merck in seiner Bedeutung für die Erforschung Sibiriens unterschätzt wird. Der Herausgeber selbst widmet sich in einem eigenen, kurzen Beitrag der Laufbahn Joseph Rehmanns in russischen Diensten (S. 97–102). Den Schlusspunkt schließlich setzt Jan Kusber, der nicht nur am Beispiel Friedrich Benjamin Lütkes, sondern auch Krusensterns, Vrangels und anderer problematisiert, in welchem Maße moderne Kategorien gerade von Nationalitäten bei Menschen greifen oder auch nicht greifen, die – deutschsprachig aufgewachsen und des Russischen teilweise kaum mächtig – doch loyale Gefolgsleute nicht nur der romanowschen Dynastie, sondern eben des russischen bzw. russländischen Imperiums waren (S. 103–117). Von gewissem Nutzen wäre es unter Umständen gewesen, diese Debatte nicht nur an Fallbeispielen am Ende des Sammelbandes zu thematisieren, sondern auch in einem einleitenden Beitrag dieser Frage nachzugehen. Allerdings ist zu vermuten, dass solche Überlegungen nur zu dem Ergebnis gekommen wären, dass die Wahrnehmung dessen, was man in dem von den Beiträgen des Sammelbandes thematisierten Zeitraum (16. bis frühes 20. Jahrhundert!) unter „deutsch‟ verstanden hat, einem großen Wandel unterworfen war. Auch geht gerade von dieser Verschiedenartigkeit und Mehrdeutigkeit ein wesentlicher Reiz des Bandes aus.
Abschließend möchte ich noch auf die Kritik Eva-Maria Stolbergs an dem hier vorgestellten Sammelband eingehen, die sie in ihrer Rezension in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 5 (15.05.2010, http://www.sehepunkte.de/2010/05/17698.html; abgerufen 17.04.2011) formuliert. Es sei ihr unbenommen, dass sie den Wert des Bandes anders einschätzt. Und auch ihre Kritik am immer noch gängigen und sicher sachlich nicht falschen Gebrauch des Begriffs „Ferner Osten“ kann man trotz des deutlich diskutableren „Russlands Wilder Osten“ im Titel ihrer Habilitationsschrift zumindest nachvollziehen. Genau von diesen unterschiedlichen Auffassungen lebt unser Wissenschaftsbetrieb. Wenn allerdings nicht mehr die Güte der Antworten, sondern die Güte oder gar Zulässigkeit der Fragen anderer Wissenschaftler angezweifelt werden, wie Stolberg dies tut, indem sie Leitfrage, Perspektive und somit Zuschnitt der Publikation „bemängelt“, dann ist dies m.E. überheblich und entspricht nicht meiner Vorstellung von wissenschaftlichem Austausch.
Zitierweise: Raoul Zühlke über: Russland, der Ferne Osten und die „Deutschen“. Hrsg. von Heinz Duchhardt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009. VI, 121 S., 5 Abb. = Veröffentlichung des Instituts für Europäische Geschichte Mainz – Beihefte, 80. ISBN: 978-3-525-10092-9, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Zuehlke_Duchhardt_Russland_der_Ferne_Osten.html (Datum des Seitenbesuchs)
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