Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), 1, S. 118-121

Verfasst von: Ljubov’ Žvanko

 

Sergej G. Nelipovič: Krovavyj oktjabr 1914 goda [Der blutige Oktober 1914].  Moskva: Minuvšee, 2013. 803 S., 64 Abb., zahlr. Tab. = Vek dvadcatyj. ISBN: 978-5-902073-95-6.

Der Geschichte des Ersten Weltkrieges, dieses in seinen Ausmaßen beispiellosen militärischen Konfliktes am Anfang des 20. Jahrhunderts, wurde schon eine beachtliche Zahl wissenschaftlicher Arbeiten gewidmet. Der Schwerpunkt der Forschung lag bisher zu Recht bei den militärischen Operationen, stachen doch hier die neuen Muster, Methoden und Formen der Gefechtsführung unter Einsatz der neuesten Waffentechnik besonders ins Auge. In der Regel sind Abhandlungen solcher Art mit dem Makel behaftet, dass Historiker aus Ländern, die den einst verfeindeten Blöcken angehörten, bei ihrer Interpretation den Verlauf von Kampfhandlungen zu Gunsten der ‚eigenen‘ Seite verzerren. Es ist daher wichtig, von der einzelnen militärischen Auseinandersetzung ein möglichst umfassendes Bild zu rekonstruieren und, angefangenen von den Planern einer Schlacht in den Generalstäben bis hin zu den einfachen Akteuren, den Soldaten und Offizieren, die unterschiedlichen Wahrnehmungen wiederzugeben.

Ein solches Buch mit dem Titel Der blutige Oktober 1914 hat der russische Militärhistoriker Sergej Nelipovič, Mitglied des Wissenschaftlichen Rates des Russischen Militärhistorischen Staatsarchivs, veröffentlicht. Das Werk ist den Operationen bei Warschau und Ivangorod [im Deutschen bekannt als Schlacht an der Weichsel – Anm. d. Übers.] gewidmet. Sie wurden zu „einer der größten kriegerischen Auseinandersetzungen der Armeen Österreich-Ungarns, Deutschlands und Russlands auf dem osteuropäischen (russischen) Kriegsschauplatz des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914“. (S. 6)

Als Ziel nennt der Autor, „ein Gesamtbild der Kämpfe im Oktober des Jahres 1914 auf dem russischen Kriegsschauplatz zu schaffen, die Handlungen der Streitkräfte der beteiligten Seiten und deren sich im Verlaufe der Schlacht ändernden Pläne darzustellen, die Gründe für den Ausgang der Schlacht für alle feindlichen Seiten zu analysieren sowie die Verluste der Seiten und deren Einfluss auf Verlauf und Ausgang sowohl der eigentlichen Schlacht, als auch der noch folgenden Kampfhandlungen zu ermitteln.“ (S. 18)

Das Buch ist entsprechend der Zielstellung klar strukturiert: Vorwort, die beiden Teile Die Weichsel im Feuer und Vom San bis zu den Karpaten, Nachwort und Anlagen, Quellen- und Literaturverzeichnis, Personenregister, „gebräuchliche Abkürzungen“ und eine komplette deutsche Übersetzung des Nachworts. Die Kapitel gliedern sich entsprechend dem Verlauf der Schlacht streng chronologisch in 22 Paragrafen, was das Lesen des Buches zweifellos erleichtert. Der Autor selbst schreibt: „Das Buch besteht aus zwei Teilen, von denen der erste der Schlacht zwischen den sogenannten „Hauptkräften“ der russischen Armeen der Nordwest- und Südwestfront sowie der deutschen 9. Armee und der k. u. k. 1. Armee am mittleren Weichselabschnitt, der eigentlichen klassischen ‚Schlacht an der Weichsel‘, gewidmet ist. Der zweite Teil befasst sich mit der dem russischen Leser bis heute unbekannten Operation der Galizischen Armeegruppe der Südwestfront gegen die Hauptkräfte Österreich-Ungarns […] am San, bei Chyrov, Sambor und Stryj sowie in der Bukowina ab Mitte September bis zum letzten Drittel des Oktobers 1914 nach dem Julianischen Kalender bzw. von Ende September bis zum 5./7. November nach dem Gregorianischen Kalender.“ (S. 20)

Im Vorwort analysiert Nelipovič Arbeiten seiner Vorgänger, wobei er darauf verweist, dass in der russischen Historiografie „die Untersuchung der Schlacht an der Weichsel nicht […] über den Erkenntnisstand von allgemeinen Studien aus den 1920er Jahren hinausgekommen ist.“ (S. 7) Der Autor geht kurz auf Forschungsarbeiten ausländischer Autoren und die Memoirenliteratur ein, wobei er zu dem allgemeinen Schluss kommt, dass es keine zusammenfassende Arbeit zu dieser Thematik gebe. Des Weiteren wird auf die archivalische Quellensituation eingegangen: Befehle, Anordnungen, Weisungen von Kommandeuren, Meldungen und Berichte über den Verlauf von Kampfhandlungen, Beschreibungen von Kämpfen und Heldentaten. Hervorzuheben ist die fundamentale Quellenbasis (insgesamt wurde auf 465 Aktenbestände zurückgegriffen) der Archive in Österreich (Militärarchiv des Österreichischen Staatsarchivs), Ungarn (Militärarchiv des Kriegsministeriums), Polen (Staatsarchiv der Hauptstadt Warschau) und in der Russischen Föderation (Russisches Militärhistorisches Staatsarchiv).

Einen eigenständigen Block bilden Tagebücher und Briefe von Befehlshabern der verschiedenen Seiten. Dadurch wird es möglich, das objektive Bild der Schlacht durch menschliche Emotionen und Wahrnehmungen zu ergänzen, die sich zweifellos nur dann offenbaren, wenn man zwischen den Zeilen dieses Werkes liest.

Wichtig ist, dass der Autor dem Leser die „Spezifik der Streitkräfte der Seiten“ erläutert, wobei die kaiserlich-russische Armee, das deutsche Heer und die österreichisch-ungarischen (kaiserlichen und königlichen) Streitkräfte detailliert beschrieben werden, was das Erfassen der recht komplizierten und spezifischen Informationen erleichtert.

Nelipovič rekonstruiert mit trickfilmgleicher Präzision, ja, man kann sagen: geradezu stundengenau, die Kampfhandlungen aller beteiligten Kampfeinheiten und taucht den Leser förmlich in den blutgetränkten Schlamm der Schlacht. Dabei ist es dem Autor nicht nur gelungen, den Verlauf „der Oktober-Schlachten des Jahres 1914“ aus Sicht des Militärhistorikers zu schildern, sondern auch den ganzen Schrecken des Krieges aufzuzeigen. An ‚trockenen‘, fast enzyklopädischen Daten zu diesem kriegerischen Konflikt, zur Verlegung von Truppen und Technik und zu anderen Aspekten, fädelt er „psychologische Momente“ auf, bringt Zitate aus Briefen, beschreibt er Landschaftsbilder des Krieges und sogar das Wetter zu verschiedenen Zeiten der Schlacht. Aus dem Tagebuch des deutschen Generals Max von Gallwitz zitiert der Autor folgende Zeilen: „Es regnet in Strömen, die Leute stürzen zu Boden und kommen nicht vorwärts. Ein trauriger Anblick. Ich habe befohlen, mit Bajonetten anzugreifen, aber alles umsonst. Nur schwache Versuche.“ (S. 93) Auf eine ähnliche Stimmung trifft man auch in den Aufzeichnungen des russischen Chefs des Stabes der 69. Infanteriedivision, Oberst Belo­usov: „Die Regimenter hocken in feuchten Schützengräben; Essen gibt es mit Müh und Not, und es ist nicht von besonderer Qualität. Die angespannte und ermüdendende Stimmung, die unter den Offizieren und besonders unter den niederen Rängen herrscht, und die ständige Lebensgefahr zermürben die physischen Kräfte und lassen die Nerven blank liegen.“ Die Kampfhandlungen werden tatsächlich mit den Augen einzelner Akteure betrachtet – eine interessante Vorgehensweise für die Darstellung von Geschichte in einem solchen Werk.

Nelipovič hat zutreffend formuliert, dass „man diesen bewaffneten Kampf zurecht als einen Krieg ganzer Völker bezeichnen kann, wobei Polen, Deutsche und Juden sowohl in den Reihen der kaiserlichen deutschen, als auch in der kaiserlich-königlichen und der kaiserlich-russischen Armee gekämpft haben.“ (S. 285) Und doch waren alle diese Menschen nur Bauern in einem komplizierten diplomatischen Spiel der Herrschenden, das außer Kontrolle geriet und eine blutige Fortsetzung nahm.

Sehr begrüßenswert ist, dass dieses Buch mit seinem imposanten Umfang (808 Seiten) über ein ausführliches Personenregister (S. 755–792) und ein Verzeichnis der gebräuchlichen Abkürzungen verfügt. Es sei speziell noch darauf hingewiesen, dass das Literaturverzeichnis (140 Positionen) überwiegend deutsch- und englischsprachige Werke umfasst (132 Positionen). Auch die Archivquellen sind detailliert aufgeführt.

Für das Buch wurde sehr viel illustratives Material ausgewählt: Fotos von der Bewaffnung und Ausrüstung der kämpfenden Seiten, Porträts von Befehlshabern, düstere Kriegslandschaften und natürlich die Opfer des Krieges – gefallene Soldaten und Flüchtlinge.

Die sorgfältig zusammengestellten 20 Anlagen (S. 645–739) ergänzen den textlichen Teil der Monografie aussagekräftig. Die Anlagen 1 bis 5 geben Aufschluss über die „Schlachtpläne“ der an den Kämpfen beteiligten Armeen. In den Anlagen 6 bis 20 werden bereits die unmittelbaren und indirekten Verluste an Menschen aufgelistet: „gefallen, den Verletzungen erlegen“, „verwundet, verschüttet“, „verschollen, in Gefangenschaft“. Es wäre allerdings von Vorteil gewesen, alle Anlagen zusammen an einer Stelle unterzubringen, denn ein Teil davon ist über das Buch verteilt. Nelipovič, einer der ersten Historiker, der sich mit der Berechnung der menschlichen Verluste in der Schlacht an der Weichsel befasst, hat es verstanden, anhand der Myriaden von Zahlen sowohl die Tragik des Krieges als auch den Mechanismus der Massenvernichtung auf dem Schlachtfeld zu zeigen.

Das Fehlen von Kartenmaterial – Ausnahmen bilden lediglich die Karte des Weichsellandes (in Kongresspolen) und die Karte Ostpreußen auf den Vorsätzen des Buches – macht es dem, wie der Autor selbst treffend sagt, „im Umgang mit Fachbegriffen unerfahrenen“ Leser schwer, sich das ganze bizarre Bild der „Kämpfe vom Oktober 1914“ vorzustellen.

Letztendlich ist das Erscheinen dieses Buchs von Sergej Nelipovič erstens für den Autor selbst die Bilanz einer bestimmte Etappe seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, zweitens ein außergewöhnliches Ereignis für Militärhistoriker und es präsentiert drittens all denen eine sehr wertvolle Studie, die an der Geschichte des Ersten Weltkrieges, der auf so grundlegende Art und Weise den Verlauf der Geschichte des 20. Jahrhunderts verändert hat, interessiert sind.

Ljubov’ Žvanko, Char’kov

Übersetzung aus dem Russischen: Norbert Krallemann

Zitierweise: Ljubov’ Žvanko über: Sergej G. Nelipovič: Krovavyj oktjabr’ 1914 goda [Der blutige Oktober 1914]. Moskva: Minuvšee, 2013. 803 S., 64 Abb., zahlr. Tab. = Vek dvadcatyj. ISBN: 978-5-902073-95-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Zvanko_Nelipovic_Krovavyj_oktjabr_1914.html (Datum des Seitenbesuchs)

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