Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 56 (2008) H. 4, S.  582-585

Forschungen zur baltischen Geschichte 1 (2006). Hrsg. von Mati Laur und Karsten Brüggemann. Akadeemiline Ajalooselts Tartu 2006. 286 S. = Humaniora historica der Universität Tartu, 1. ISSN: 1736-4132.

Forschungen zur baltischen Geschichte 2 (2007). Hrsg. von Mati Laur und Karsten Brüggemann. Akadeemiline Ajalooselts Tartu 2007. 309 S. = Humaniora historica der Universität Tartu, 2. ISSN: 1736-4132.

Die beiden Herausgeber dieses neuen Jahrbuches, Professoren für allgemeine Geschichte an den Universitäten Tartu bzw. Tallinn in Estland, stützen sich auf ein internationales Redaktionskollegium. Sie haben ihre Ziele einleitend und in „Herder aktuell“, dem Informationsheft aus dem Herder-Institut Marburg, Nr. 24/25 vom Dezember 2007, vorgestellt und dabei ein klares Profil entwickelt. Das Jahrbuch, kurz FzbG, zielt darauf ab, die aktuellen Forschungen aus der baltischen Region – Estland, Lettland, bald auch Litauen – einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit auf Deutsch bekannt zu machen, einer Sprache, die im Baltikum Tradition hat. Der Aufsatzteil umfasst die ganze Geschichte der baltischen Region von der Frühgeschichte bis zur Gegenwart und wird auch an­grenzende Territorien und Staaten mit einbeziehen; ein Abschnitt „Mitteilungen“ bringt kurze Forschungsberichte und Übersichten, z.B. über abgeschlossene Dissertationen an estnischen und lettischen Universitäten. Der umfangreiche und ausgefeilte Rezensionsteil soll dem deutsch­sprachigen Leser einen Überblick über die neu­es­te Literatur aus und über Nordosteuropa verschaffen und dabei durchaus auch Schrifttum aus Russland, Finnland, Polen und anderen Staaten vornehmlich über die baltische Region berücksichtigen. In den beiden ersten Bänden nehmen die durchwegs sorgfältigen Besprechun­gen jeweils fast 100 Seiten ein. Damit wird ein Anspruch gestellt, den keine andere einschlä­gige Zeitschrift in diesem Umfang erfüllt.

Band 1 (2006) stützt sich im Aufsatzteil weitgehend auf Arbeiten, die auf Estnisch bereits erschienen sind und wegen ihres Gewichts einem des Estnischen nicht mächtigen Lesepublikum nahegebracht werden sollen. Jeder Aufsatz wird durch ein „Summary“ abgerundet. Die Themen der zehn Aufsätze reichen von der Wacke im vorzeitlichen und mittelalterlichen Estland bis zur stalinistischen Politik gegenüber der estnischen Bildungselite. Der Tartuer Ur- und Früh­geschichtler Valter Lang erörtert in seinem gelehrten und gut geschriebenen Eröffnungsbeitrag die Frage, inwieweit die Wacke als Begriff für den Steuerbezirk bereits in die späte Bronzezeit zurückverlegt werden kann. Er führt überzeugende Gründe dafür an und setzt sich dabei besonders mit bisher als grundlegend angesehenen Arbeiten von Arvi Korhonen (1923), Enn Tarvel – sein Buch über den „Haken“ (Adramaa) wurde 1983 in Tartu/Dorpat in deutscher Sprache publiziert – und mit den Ergebnissen von Paul Johansen und Heinz von zur Mühlen auseinander, die alle den Begriff „Wacke“ dem Mittelalter zuordnen. Anti Selart, Tartu, dessen Buch über „Livland und die Rus’ im 13. Jahrhundert“ 2007 in der Reihe „Quel­len und Studien zur baltischen Geschichte“ in deutscher Sprache erschienen ist, widmet seinen Aufsatz Fürst Konstantin von Polock und dem dritten Viertel des 13. Jahrhunderts. Sulev Vahtre (1926–2007) interpretiert drei Regesten des frühen 16. Jahrhunderts, die auf Briefe, zumeist Neugetaufter, aus dem Jahr des Estenauf­stands 1343 zurückgehen, welche verloren gegan­gen sind und deren Inhalt mit Hilfe der Regesten rekonstruiert werden muss. Der Numisma­tiker Ivar Leimus, Tallinn, geht der Frage nach, ob auch Livland von der west- und mittel­europäischen spätmittelalterlichen Wirtschaftskrise betroffen gewesen sei; er setzt der These des verstorbenen Rigaer Historikers Vasilij V. Dorošenko, dass die Preise in Livland relativ stabil geblieben seien, eine schlüssige abweichende Argumentation entgegen. Imponierend ist hier die Breite der vergleichenden Beweisführung aus numismatischen und wirtschaftshisto­rischen Quellen auch Großbritanniens und Flanderns. Es folgen drei nützliche und klar formulierte Übersichtsdarstellungen: Margus Laid­re, Botschafter Estlands in London, charakterisiert die Etappen des „Hundertjährigen Krie­ges“ (1558–1660/61) in Estland; Enn Küng, Tartu, schildert die Entwicklung von Nyen, der schwedischen Neugründung in Inger­man­land und faktischen Vorgängerstadt von St. Petersburg, im zweiten Viertel des 17. Jahrhunderts; Tiit Rosenberg, Tartu, schließlich beschreibt die Stadt Walk/Valga im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts mit ihren Grenzen, Stadtbauten und im Hinblick auf Einwohner und Steuerpflichtige (Okladisten), Handwerk und Han­del, Verwaltung und Lasten sowie Schulen und Geselligkeit.

Mit dem spannenden Aufsatz von Tõnu Tann­berg, Tartu, über religiöse und ethnische Be­schränkungen bei der Komplettierung der rus­sischen Armee in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts kommen Themen der Moderne zum Zuge. Zwar sollte die russische Armee prinzipiell für alle Angehörigen des riesigen Reiches offen sein; es existierten jedoch geheime Einschränkungen, die nach dem Polnischen Aufstand von 1830 zunächst die Polen betrafen, aber auch andere Ethnien berührten, besonders wenn es um Offiziersstellen ging. Russen sollten in allen Einheiten dominieren. Im längsten Aufsatz untersucht Ago Pajur, Tartu, in Auseinandersetzung mit der breiten internationalen Literatur „Die Geburt des estnischen Unabhängig­keitsmanifests 1918“. Dabei geht er detailliert auf die Schwierigkeit ein, überhaupt einen Ort zu finden, an dem das schließlich in 40.000 Exemplaren vorliegende Manifest proklamiert werden konnte. Als Gründungsdatum der Repub­lik Estland gilt der 24. Februar 1918; doch hat es vorher und nachher Versuche gegeben, zwi­schen dem konkurrierenden Machtanspruch der bol’ševiki und der nahenden deutschen Truppen mit dem Anliegen der erstmaligen Staatsgründung festen Boden zu gewinnen. Väino Sirk, Tallinn, charakterisiert schließlich die stalinistische Politik gegenüber den estnischen Bildungseliten recht drastisch und nachdrücklich als eine „vertikale, vor allem auf Angst und Zwang beruhende, teils sogar irrationale Beziehung zwischen Unterworfenen und Un­terwerfern“ (S. 173).

Mit Band 2 (2007) gelingt es, auch lettische Autoren zu gewinnen: Vier der neun Beiträge entstanden in Lettland. Sie sind alle bereits auf Lettisch in wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen und für die Übersetzung ins Deutsche ausgewählt worden. Auf intensiven Forschungen beruht der Aufsatz von Marite Jakovleva, Riga, über die Beziehungen zwischen Herzog Ja­kob von Kurland und Russland in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts. Sie zeigt, wie geschickt Jakob als Mittler zwischen den kriegsführenden Parteien eine eigenständige Position zu entwickeln verstand. Kurland konnte eine eigene Rolle zwischen Polen, Schweden und Russ­land beanspruchen und wurde zu einem festen politischen Begriff. Ineta Lipsa, Riga, versucht zu erklären, warum Frauen bei den Parlamentswahlen in Lettland 1920–1934, bis zum Beginn der Ein-Mann-Herrschaft von Karlis Ulmanis, so erfolglos waren. Offenbar wurden auch Kandidatinnen auf aussichtsreichen Listen­plätzen infolge gezielter Stimmenabgabe nicht ge­wählt, weil ihr Platz in der Familie und nicht im öffentlichen Leben gesehen wurde. Ilgvars Butulis, Riga, setzt die langjährige Kontroverse über die Diktatur von Karlis Ulmanis (1934–1940) fort und untersucht detailliert und kritisch die Auswirkungen der autoritären Ideologie auf die lettische Geschichtsschreibung der Zeit. Schließ­lich hat Vita Zelce, Riga, die ersten so­w­jetischen Zeitdokumente der Nachkriegszeit ins Visier genommen und Kalender für das Jahr 1945 untersucht. Es gab je eine Sorte für Lehrer, Bauern, „Literaten“ und für das allgemeine Publikum. In allen Ausgaben wurde den Lesern nahe gebracht, wie man im stalinistischen Sowjetsystem als Lette überleben konnte.

Kalervo Hovi, Universität Turku, bringt eine Zusammenfassung seiner langjährigen, grund­legenden Studien zur Veränderung der Schwerpunkte der französischen Baltikumpolitik 1918–1927. Der sofortigen de facto-An­er­ken­nung der estländischen Unabhängigkeit am 1. März 1918 folgte die de jure-An­erkennung erst im Januar 1921. Zu diesem Zeitpunkt zeich­ne­te sich der Sieg der bol’ševiki im Bürgerkrieg bereits ab. Frankreich setzte gleichzeitig auf die polnische Karte, scheiterte jedoch mit seinem Ziel einer auf Frankreich orientierten Politik aller Grenzstaaten, also Finnlands, Estlands, Lettlands, Litauens und Polens, am unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Polen und Litauen wegen der Wilnafrage. Selbst die französische Zurückhaltung anlässlich der Besetzung des Memel­gebietes durch Litauen nützte nichts. Litauen ließ sich in die Grenzstaatenkonferenz von Helsinki im Januar 1925 nicht einbinden.

Auch im 2. Band sind die estnischen Beiträge besonders wichtig. Aufbauend auf der grundlegenden Darstellung von Enn Küng in Band 1 der „Forschungen“ untersucht Piret Lotman, Tartu, den Kirchenstreit zwischen schwedischen und deutschen Geistlichen in der neu gegründeten Stadt Nyen in Ingermanland in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die feine, kurze Studie macht klar, welche Schwierigkeiten sich aus der un­ausgewogenen Bevölkerungsstruktur ergaben. Die schwedisch-finnische – lutherische – Gemein­de repräsentierte die unterste soziale Schicht; darüber wölbte sich eine kleine, aber ein­flussreiche deutsche lutherische Oberschicht. Mit schwedischen Behörden wurde auf Deutsch korrespondiert. Der Streit ging um die Frage, ob ein deutscher Pastor überhaupt nötig sei. Die schwedische Kirche legte auf ein gut ausgebautes Bildungssystem Wert, konnte sich gegenüber den Deutschen jedoch nicht durchsetzen, die dank des wachsenden Handelskapitals in ihren Händen das Übergewicht in der Gestaltung des Schul- und Kulturlebens gewannen. Besonderes Interesse verdient auch die Arbeit von Aivar Põldvee, Tartu. Er untersucht Konflikte zwischen estnischen, schwedischen und deutschen Bewohnern mehrerer Kirchspiele im westestnischen Küstengebiet im 17. Jahrhundert. Seine Ergebnisse werfen ein neues Licht auf die „Schwe­denzeit“ in Estland und zeigen die Landbevölkerung in ihrer rechtlichen und ethnischen Verschränkung. Unter Carl XI. wurde in den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts eine Kommission eingesetzt, die der Frage nachging, ob der Anspruch von Bauern auf persönliche Freiheit berechtigt sei, die sich als Träger schwedischer Namen auf das schwedische Recht beriefen, obgleich sie kaum mehr Schwedisch verstanden. Schließlich wollten einige Kläger dennoch lieber nach estnischem Recht („Estnisk Rätt“) Leibeigene bleiben, zumal der König sie als freie Schweden für den Dienst in der Marine zu reklamieren suchte. Aus den Gerichtsprotokol­len und dem Verlauf einzelner lokaler Begebenheiten ergibt sich durch lokale Studien ein differenziertes Bild von „ethnischen Reibereien“ (S. 68), die der Autor nicht überschätzt, aber im Hinblick auf die frühe estnische Geschichte mit Recht auch nicht übersehen will. Tõnu Tannberg veröffentlichte seinen Aufsatz über „Der Kreml und die baltische Frage 1956“ auch in einer erweiterten russischen Version in der Zeitschrift „Ab Imperio“ 8 (2007). Der geographische Rahmen des gründlichen Beitrags ist weit gesteckt und umfasst Georgien und die drei baltischen Sowjetrepubliken, in denen nach der berühmten Chruščev-Rede auf dem 20. Parteitag die Kontrolle der Gesellschaft verschärft wurde. Vor allem die ideologische Arbeit wurde reorga­ni­siert und einer stärkeren Aufmerksamkeit für die estnische Sprache und der Beförderung der ei­genen estnischen Kader das Wort geredet. Die Überheblichkeit russischer Angehöriger der Roten Armee gegenüber der Zivilbevölkerung müs­se abgelegt werden. Nach den Ereignissen in Polen und Ungarn wurde dem Moskauer ZK allerdings berichtet, dass vor allem Estland und Litauen „vom Nationalismus infiziert“ seien. Die Führung antwortete mit verstärkten Repressionen. Insgesamt war 1956 kein Jahr des Umbruchs für die baltischen Sowjetrepubliken. Die Leser des neuen Jahrbuchs werden schließlich dankbar vermerken, dass der abgewogene und grund­legende Aufsatz von Ea Jansen (1921–2005) aus der Zeitschrift „Tuna“ (2005) in diesen Band aufgenommen wurde. Die große Kennerin der Beweggründe der älteren Träger der est­nischen nationalen Bewegung zum politischen Handeln ordnet unter dem Stichwort „Bal­tentum“ die ideologischen Unterschiede zwi­schen politisch und ethnisch unterschiedlichen „Balten“ in den größeren Zusammenhang der Provinzialgeschichte vornehmlich der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Der Nachdruck liegt auf dem Gegensatz und den wachsenden Gemeinsamkeiten zwischen Harry Jannsen (1851–1913), dem im deutschen Geist erzogenen estnischen Lutheraner und Mitredakteur des „Postimees“ sowie des deutschsprachigen Ta­geblatts „Die Heimath“ (1882–1884), und dem kirchenfeindlichen, scharfen Gegner jedes verbindenden „Baltentums“, Carl Robert Jakobson (1841–1882), dem Redakteur der „Sakala“. Die Zielsetzungen beider Publizisten näherten sich schließlich deutlich an, unterschieden sich aber zunächst grundlegend: Harry Jannsen wollte einen Ausgleich zwischen den Ständen und in erster Linie „Balte“, danach erst Este sein; der estnische Nationalist Jakobson hingegen setzte ganz auf unifikatorische Maßnahmen der russischen Reichsregierung und hoffte im Zeichen der bekannten Manaseinschen Senatorenrevision von 1882/83 und der estnischen Petitionsbewegung auf den radikalen Abbau der deutschbaltischen Vorherrschaft. Mit der Verschmelzungspolitik der Reichsregierung nach 1887 habe Jann­sen, der ebenfalls die bestehenden Verhältnisse für untragbar hielt, allerdings nach Auffassung der Autorin fünf Jahre zuvor nicht rechnen können. Später habe er jedoch als Staatsbeamter unter dem livländischen Gouverneur Michail Zi­nov’ev bei der Durchsetzung von Russifizierungs­maßnahmen geholfen.

Das gediegen aufgemachte und gut redigierte Jahrbuch schließt eine Lücke. Ihm sind zahlreiche Abonnenten und weitere vielseitige Artikel, Mit­teilungen und Rezensionen zu wünschen.

Gert von Pistohlkors, Göttingen

Zitierweise: Gert von Pistohlkors über: Forschungen zur baltischen Geschichte 1 (2006). Hrsg. von Mati Laur und Karsten Brüggemann. Akadeemiline Ajalooselts Tartu 2006. = Humaniora historica der Universität Tartu, 1. ISSN: 1736-4132. Forschungen zur baltischen Geschichte 2 (2007). Hrsg. von Mati Laur und Karsten Brüggemann. ISSN: 1736-4132., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 56 (2008) H. 4, S. 582-585: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/von_Pistohlkors_Forschungen_zur_baltischen_Geschichte_1-2.html (Datum des Seitenbesuchs)