Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Ausgabe: 59 (2011) H. 1
Verfasst von:Wolfram von Scheliha
I. V. Pozdeeva, A. V. Dadykin, V. P. Puškov Moskovskij Pečatnyj dvor – fakt i faktor russkoj kul’tury 1652–1700 gg. Issledovanija i publikacii. V trech knigach. Kniga 1 [Der Moskauer Druckereihof – Faktum und Faktor der russischen Kultur 1652–1700. Forschungen und Publikationen. In drei Büchern. 1. Buch]. Moskva: Nauka, 2007. 399 S. ISBN: 978-5-02-036014-3.
Mangels Universitäten und höherer Bildungseinrichtungen war der Moskauer Druckereihof im 17. Jahrhundert viele Jahrzehnte lang geistiges Zentrum des Moskauer Reiches. Hier wurden die umstrittenen Korrekturen an den Liturgiebüchern vorgenommen, die zum Schisma mit den Altritualisten führten, hier wurden Texte und Bücher zum Druck vorbereitet, durch die – unbeabsichtigt – neues Gedankengut in die Moskauer Rus’ gelangte. Nach gut dreißigjähriger Beschäftigung mit dem Druckereihof kann Irina Pozdeeva, die an der MGU das „Archäographische Labor“ gegründet hat, als die wohl beste Kennerin der Quellen dazu gelten. Nachdem sie und ihr Team bereits 2001 ein Buch mit gleichem Titel für die Zeit von 1618 bis 1652 veröffentlicht haben, liegt nun der erste Band zur zweiten Jahrhunderthälfte vor.
Wie sein Vorgänger gliedert er sich in einen Aufsatz- und in einen Quellenteil mit annähernd gleichem Umfang. Nach einem Abriss des Forschungsstandes unter Ausschluss der nichtrussischen Literatur behandelt Anton Dadykin zunächst die verschiedenen Quellenarten, die der Archivbestand des Prikaz pečatnogo dela enthält. Im Anschluss arbeitet Pozdeeva das Neuartige in der Tätigkeit des Druckereihofes nach 1652 heraus: die Auseinandersetzung mit den Altritualisten und die „aufklärerische Tätigkeit“. Diese drückte sich im Druck von Fibeln und Lehrbüchern aus, die für „alle Regionen des Reiches und alle sozialen Schichten der Gesellschaft“ bestimmt gewesen seien und die Funktion gehabt hätten, die Gesellschaft auf die „neue Zeit“ vorzubereiten (S. 62). Zwar schränkt Pozdeeva unter Berufung auf Rogov ein, dass es sich dabei um eine „Aufklärung mittelalterlichen Typs“, um „geistliche Aufklärung“ gehandelt habe (S. 70). Allein es bleibt unklar, ob hier auf das west- bzw. mitteleuropäische oder auf das rus’ische Mittelalter Bezug genommen wird. Es besteht aber doch ein erheblicher Unterschied zwischen der scholastischen Gelehrsamkeit im Westen und der Verbreitung von ABC-Büchern im Umfang weniger Seiten, die allenfalls rudimentäre Lesekenntnisse, aber keine Schreibfähigkeit vermitteln konnten. Pozdeeva weist selbst darauf hin, dass die Kirche in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Arbeit der Korrektoren verstärkt beaufsichtigte, um die publizierten Inhalte zu kontrollieren. „Aufklärung“, ob durch Attribute modifiziert oder nicht, scheint hier nicht der treffende Begriff zu sein. Warum schließlich die Publikation der Kormčaja Kniga, der Sammlung Kanonischen Rechts, im Jahr 1653 jenseits der zeitlichen Koinzidenz „unabdingbar für die reale Wiedervereinigung Russlands mit der Ukraine, der russischen und ukrainischen Kirchen“ (diese erfolgte allerdings erst 1685), war, bleibt im Dunkeln.
Im anschließenden Kapitel beschreibt Dadykin die Struktur des Prikaz knižnogo dela und die Entwicklung der Mitarbeiterschaft. Er informiert über den Abverkauf der hergestellten Bücher (einen Teil der Auflagen erstanden die Mitarbeiter selbst zum Weiterverkauf), über die Privilegien der Mitarbeiter (Befreiung vom Wachdienst), Steuerfragen und gerichtliche Streitigkeiten. Darüber hinaus konstatiert er, dass der Druckereihof sich 1628 von einem Handwerksbetrieb in eine „zentralisierte Manufaktur“ verwandelt hat, ohne dies – abgesehen von der Arbeitsteilung – näher zu erläutern. Als Teil einer Behörde, die staatliche und kirchliche Aufträge ausführte, hat dem Druckereihof aber das für eine Manufaktur typische (früh-)kapitalistische Moment gefehlt.
Im abschließenden Beitrag untersucht Viktor Puškov mithilfe der Korrelationsanalyse die Einnahme- und Ausgabenseite der Buchproduktion zwischen 1660 und 1665. Sein Fazit: Die Verkaufspreise sind nicht mit dem Ziel der Ertragsgewinnung gebildet worden, sondern um eine möglichst weite Verbreitung der Bücher sicherzustellen, wobei allerdings Kostendeckung angestrebt wurde.
Der Dokumentenanhang enthält ein Sammelsurium von Quellen zu verschiedenen Aspekten des Druckereihofs aus den Jahren 1652 bis 1667 (Patriarchat Nikons). Er bietet einerseits einen guten Überblick, andererseits schränkt die recht bunte Zusammenstellung die praktische Brauchbarkeit ein. Hervorzuheben sind die Käuferverzeichnisse verschiedener Bücher (z.B. Služebnik von 1655, Skrižal’ von 1656), welche die Verbreitung der „Reformbücher“ veranschaulichen. Die Texte wurden bei der Edition der modernen Orthographie angepasst, was einerseits ihre Lesbarkeit erleichtert, ihnen andererseits ein Stück Authentizität und Quellenwert nimmt. Auf eine Kommentierung wurde weitgehend verzichtet. Hilfreich sind ein umfangreiches Glossar wichtiger Fachbegriffe und mehrere Register. Trotz mancher Kritik wird wohl niemand, der sich künftig mit dem Moskauer Druckereihof im 17. Jahrhundert beschäftigt, an diesem Buch vorbeikommen können.
Wolfram von Scheliha, Leipzig
Zitierweise: Wolfram von Scheliha über: I. V. Pozdeeva, A. V. Dadykin, V. P. Puškov Moskovskij Pečatnyj dvor – fakt i faktor russkoj kul’tury 1652–1700 gg. Issledovanija i publikacii. V trech knigach. Kniga 1 [Der Moskauer Druckereihof – Faktum und Faktor der russischen Kultur 1652–1700. Forschungen und Publikationen. In drei Büchern. 1. Buch]. Izdat. Nauka Moskva 2007. ISBN: 978-5-02-036014-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/von_Scheliha_Pozdeeva_Moskovskij_Pecatnyj_dvor.html (Datum des Seitenbesuchs)
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