Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 65 (2017), 4, S. 660-661
Verfasst von: Christophe von Werdt
Joachim Bahlcke: Gegenkräfte. Studien zur politischen Kultur und Gesellschaftsstruktur Ostmitteleuropas in der Frühen Neuzeit. Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2015. XVII, 481 S., 53 Abb. = Studien zur Ostmitteleuropaforschung, 31. ISBN: 978-3-87969-396-2.
Der zu rezensierende Band versammelt verschiedene Aufsätze von Joachim Bahlcke, die in den Jahren seit 1993 an teils entlegenen Orten erschienen sind. Sie befassen sich mit frühneuzeitlichen „Gegenkräften“ gegen die Bestrebungen monarchie-zentrierter Staatsbildungen in Ostmitteleuropa. Wie Bahlcke mit einem historiographischen Seitenblick auf die eigenen Beiträge vermerkt, entspringt diese Beschäftigung mit den „Freiheitstraditionen Ostmitteleuropas“ (Klaus Zernack) durchaus zeitgebundener Aufmerksamkeit: Das aufkeimende Interesse für diesen Themenkreis ist vom zeitgeschichtlichen Hintergrund des historischen Umbruchs des Jahres 1989 in Ostmitteleuropa und dem damit einhergehenden „Enthusiasmus“ kaum zu trennen (S. XV–XVI). Deshalb thematisieren die Aufsätze Bahlckes nicht zuletzt Fragen der „historiografischen Rekonstruktion“ und der „erinnerungskulturellen Transformation“ (S. XII) im Umgang mit der frühneuzeitlichen Geschichte Ostmitteleuropas.
Bahlcke unterteilt die Gegenkräfte zu einer monarchie-zentrierten Staatsbildung in solche ständisch-sozialer, geistig-religiöser und regional-territorialer Natur. Weiterhin ordnet er seine Studien drei – allerdings sehr allgemeinen und damit etwas beliebigen – Themenkapiteln zu. Das erste befasst sich mit politischen Ordnungsvorstellungen und Verfassungspraxen. Hierbei kommt ständischen und religiösen Freiheitsbegriffen eine besondere Bedeutung zu. Am Beispiel der habsburgischen Kronländer zeichnet der Autor in verschiedenen Aufsätzen die Ausbildung ständisch-territorialer und rechtlicher Länderidentitäten nach. Und er beschreibt die Versuche der Annäherung und Bündnisbildung zwischen diesen Ländern als Gegenbewegung zur monarchisch-herrschaftlichen Staatsbildung mit einem Höhepunkt im frühen 17. Jahrhundert und ihrer (historiografischen) Fernwirkung bis ins 19. Jahrhundert. Im zweiten Themenkapitel unter der Überschrift Strukturen und Strukturvergleiche folgen Aufsätze, die sich schwerpunktmäßig der Konfession als Kristallisationskern des Ständischen in Böhmen, Ungarn, Siebenbürgen, Schlesien und Kroatien widmen. Das letzte Themenkapitel Gesellschaftliche Formierungs- und Austauschprozesse widmet sich der Herausbildung und dem Selbstbewusstsein der Adelsstände in Böhmen, Ungarn, Schlesien und Mähren, wobei auch hier die Konfession eine herausragende Rolle spielt.
Auffallend für eine Studiensammlung zu Gegenkräften in Ostmitteleuropa während der Frühen Neuzeit ist die weitgehende Abwesenheit des polnisch-litauischen Entwicklungsmodells. Polen-Litauen wird nur gerade in zwei vergleichenden Aufsätzen zu Föderationsmodellen und Libertas-Vorstellungen thematisiert, obwohl Bahlcke an einer Stelle (S. 22) selbst feststellt, dass sich gerade die politiktheoretische Reflexion zum Thema der ständischen „Gegenkräfte“ einzig in Polen in einem reichen Schrifttum niedergeschlagen hatte. Zweifellos hängt dies mit den Forschungsschwerpunkten des Autors zusammen und ist insofern legitim.
Im Rahmen dieser Rezension ist es nicht möglich, auf sämtliche in diesem Sammelband zusammengestellten Aufsätze einzugehen. Es seien deshalb jene Studien besonders erwähnt, die länderübergreifend vergleichenden und synthetischen Charakters sind. Im einleitenden Beitrag zu Unionsstrukturen und Föderationsmodellen, der auch auf die Diskussion der älteren Historiographie und ihrer herausragenden Protagonisten (Hoetzsch, Krofta, Eckhart, Halecki) eingeht, unterstreicht Bahlcke bilanzierend „ein in allen ostmitteleuropäischen Ländergruppen zu beobachtendes hohes ständisches Integrationspotenzial“ (S. 18). Dies führt ihn zur Schlussfolgerung, dass anti-absolutistische Gegenkräfte, die neuartige, nicht-monarchische politische Strukturen ermöglichten, nicht nur im Rahmen der „bürgerlichen Vergesellschaftung“ angelegt gewesen seien. Im Aufsatz zu den „Libertas-Vorstellungen“ verfolgt Bahlcke die Entwicklung des Freiheitsbegriffs in den Adelsgesellschaften Polens, Böhmens und Ungarns. Er unterstreicht hier die identitätsstiftende Funktion des Freiheitsbegriffs, der auch überständisches Potential aufwies.
Die verschiedenen im Sammelband vereinigten Detailstudien weisen – nicht verwunderlich – zahlreiche thematische Überschneidungen und Redundanzen auf. Sie kreisen alle um die von Bahlcke einleitend skizzierten Kernthemen und haben einen zeitlichen Schwerpunkt in der Epoche der Konfessionalisierung und der Krisen der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Es wäre also aus Sicht des Rezensenten nahegelegen, die verschiedenen Studien nicht einfach unverändert wieder abzudrucken. Vielmehr hätte sich dem in seinem Forschungsbereich überaus bewanderten Autor die Chance geboten, unter dem Aspekt der ständisch, religiös und territorial verankerten „Gegenkräfte“ eine strukturierte Gesamtschau auf die Länder der böhmischen und ungarischen Krone für das 16. und 17. Jahrhundert zu wagen. Schade, dass diese ausgeblieben ist. Auch eine entsprechende Zusammenfassung und ein Fazit aus den verschiedenen Studien fehlen im Sammelband. So bleibt der Rezensent mit einem punktuellen und eklektischen Eindruck aus verschiedenen, im Sammelband zusammengeführten Forschungsaufsätzen zurück, wo er sich doch auf eine Synthese zwischen zwei Buchdeckeln gefreut hätte.
Zitierweise: Christophe von Werdt über: Joachim Bahlcke: Gegenkräfte. Studien zur politischen Kultur und Gesellschaftsstruktur Ostmitteleuropas in der Frühen Neuzeit. Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2015. XVII, 481 S., 53 Abb. = Studien zur Ostmitteleuropaforschung, 31. ISBN: 978-3-87969-396-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/von_Werdt_Bahlcke_Gegenkraefte.html (Datum des Seitenbesuchs)
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