Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 65 (2017), 4, S. 671-672

Verfasst von: Christophe von Werdt

 

Miia Ijäs: Res publica Redefined? The Polish-Lithuanian Transition Period of the 1560s and 1570s in the Context of European State Formation Processes. Frankfurt a. M., Berlin, Bern [usw.]: Peter Lang, 2016. 304 S., 2 Tab. = Eastern and Central European Studies, 5. ISBN: 978-3-631-66712-5.

In ihrem Buch wendet die finnische Forscherin Ijäs das aus der Politologie stammende Konzept der rationalen politischen Entscheidungsfindung (rational choice theory) auf den polnisch-litauischen Staat der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts an. Sie untersucht, wie sich die Eliten des Staates auf das Erlöschen der Jagiellonen-Dynastie und das damit einhergehende Interregnum, die sich lange Jahre im Voraus abzeichneten, vorbereiteten. Im Unterschied zu verschiedenen ähnlich gelagerten Studien bezieht sie dabei auch die außenpolitisch-dynastische Perspektive und die Einbettung Polen-Litauens in das europäische Mächtesystem in ihre Analyse mit ein.

Mit diesem Theorie-Ansatz kann sie zeigen, dass die politischen Eliten Polen-Litauens in der Krisenzeit der sechziger und siebziger Jahre des 16. Jahrhunderts nicht chaotisch-kopflos und einzig den kurzfristigen Eigeninteressen verpflichtet agierten – dies ein historiographisches Zerrbild Polen-Litauens als „Adelsanarchie“. Vielmehr hatten die sozial, wirtschaftlich, religiös und regional sehr unterschiedlich zusammengesetzten Adelsgesellschaften Polen-Litauens immer auch das Fortbestehen des Staatsganzen vor Augen. Ijäs gesteht diesen vormodernen politischen Entscheidungsträgern – nicht anders als uns Heutigen – zu, dass sie „rational“ handelten. In dem Sinne, dass verschiedene politisch entscheidungsfähige gesellschaftliche Gruppen mit ihren je eigenen Präferenzen die zur Verfügung stehenden politischen Optionen und Alternativen untereinander abwogen und aushandelten, um die Krisensituation der königslosen Zeit zu überwinden.

Ijäs handelt die politischen Positionen und Entscheidungsmechanismen der Krisenzeit der sechziger und siebziger Jahre des 16. Jahrhunderts in vier Kapiteln ab. Zuerst legt sie dar, auf welcher politischen Wertebasis die Adelsgesellschaft Polen-Litauens gründete, als sich das Ende der Jagiellonen-Dynastie ankündigte. Als einen zentralen Begriff des Diskurses jener Zeit arbeitet sie die Idee der Freiheit (libertas) heraus, an der sich die von ihr beigezogenen zeitgenössischen Autoren mit verschiedenen, differenzierten Interpretationen abarbeiteten. Vor dem Hintergrund der reformatorischen Bewegungen, die in Polen-Litauen die Dominanz der katholischen Kirche in Frage stellten, gewann das Konzept der libertas als religiöse Wahlfreiheit des Adels eine ganz neue, religiös-weltanschauliche Dimension. Die Institution des Königs als Garant staatlicher Kontinuität überwölbte diese Differenzen, wie auch jene zwischen dem polnischen und dem litauischen Landesteil. Die Bedeutung und Symbolkraft des Königtums für die Fortdauer Polen-Litauens war so stark, dass man den Leichnam des verstorbenen Monarchen Sigismund August über die Zeitdauer von fast zwei Jahren nicht begrub, bis ein neuer Herrscher gekrönt war.

Im zweiten Kapitel widmet sich die Autorin der unmittelbaren Vorlaufzeit des Interregnums in den sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts. Diese war gekennzeichnet durch eine Reihe von Maßnahmen und „Reformen“, die die rechtliche und politische Stabilität Polen-Litauens auch nach dem Ableben des letzten Jagiellonen gewährleisten sollten: Die vom Adel ausgehende Bewegung, die im Staate geltenden Gesetze auch tatsächlich umzusetzen, insbesondere gegen die Privilegien der katholischen Kirche; eine Steuerreform, die den königlichen Staatshaushalt auf eine stabile Grundlage stellen sollte; die Befestigung der staatlichen Union zwischen dem Königreich Polen und dem Großfürstentum Litauen durch deren Loslösung von der Person des Herrschers (Realunion statt Personalunion); die außenpolitische Absicherung Polen-Litauens durch dynastische Verbindungen, Diplomatie und Krieg. Und schließlich ist auch die Warschauer Konföderation, die erst im Interregnum nach dem Tode von Sigismund August auf dem ersten Konvokationsreichstag abgeschlossen wurde (1573), als ein Schritt der Stabilitätssicherung zu sehen: Angesichts einer königslosen Übergangsphase galt es, den religiösen Frieden zwischen den verschiedenen Adelsgruppen christlicher Konfession abzusichern, und durch das Erfordernis der Einmütigkeit bei der politischen Entscheidungsfindung zu verhindern, dass der polnisch-litauische Staat an den Differenzen zwischen den verschiedenen Adelsfraktionen zerbrach.

Die Königswahlen der Jahre 1573 und 1575 stehen im Zentrum des dritten Kapitels. Die Autorin legt hier den Schwerpunkt ihrer Ausführungen auf den außenpolitischen Vektor dieser Wahlen und den Versuch, die Stellung Polen-Litauens im europäischen Mächtesystem der königlichen Familien-Dynastien durch die rationale Evaluation und Wahl eines Monarchen zu befestigen. Ijäs widerspricht damit insbesondere der weitverbreiteten Auffassung, es sei dem polnisch-litauischen Adel bei diesen Wahlen nur darum gegangen, einen möglichst schwachen König zu installieren, um seine eigene politische Macht auszubauen. So stand der schließlich zum König gewählte Henri Valois vor seinem französischen Hintergrund für ein ausgesprochen starkes Königtum, das innenpolitische Stabilität und militärischen Erfolg in den Außenbeziehungen versprach. Diese beiden Ziele durch die Wahl eines geeigneten Königs zu erreichen, galt auch beim erneut notwendig gewordenen Reichstag des Jahres 1575 über die Grenzen aller Adelsparteiungen hinweg.

Im letzten Kapitel vergleicht Ijäs innovativ die verschiedenen Verträge (pacta conventa), die in den Jahren 1573–1576 mit den drei möglichen und zum Teil schließlich tatsächlichen Inhabern des polnischen Königsthrons ausgehandelt wurden. Sie dienten dazu, die Kontinuität des polnisch-litauischen Staatswesens und seines politischen Systems mit der spezifischen Teilung der Gewalten zwischen König und Adel und seine internationale Stellung über den Dynastiewechsel hinaus auszutarieren und zu gewährleisten. Die pacta conventa gewichteten in Abhängigkeit von der Person des potentiellen Herrschers und Vertragspartners die verschiedenen anstehenden Fragestellungen unterschiedlich, wobei die Außenpolitik in allen drei Fällen großes Gewicht besaß. Denn hier handelte es sich um die ureigenste politische Domäne des Königs. Die bereits zur Zeit der Herrschaft von König Batory einsetzende Re-Katholisierung Polen-Litauens interpretiert Ijäs als Zeichen dafür, dass Polen-Litauen nur als katholisches Königreich seinen akzeptierten Platz im europäischen Mächtekonzert absichern konnte.

In ihrer Studie wertet Ijäs zwar kein neues Quellenmaterial zur politischen Entwicklung in Polen-Litauen während der Krisenzeit der sechziger und siebziger Jahre des 16. Jahrhunderts aus – dies ist auch nicht ihr Anspruch. Sie beeindruckt jedoch damit, wie sie unter Zuhilfenahme der Theorie der rationalen Entscheidungsfindung das konträre, aber durchaus auch vorausschauende Handeln der politischen Eliten und deren Evaluation verschiedener Optionen – insbesondere bei der Wahl eines neuen Königs – deutet.

Christophe von Werdt, Bern

Zitierweise: Christophe von Werdt über: Miia Ijäs: Res publica Redefined? The Polish-Lithuanian Transition Period of the 1560s and 1570s in the Context of European State Formation Processes. Frankfurt a.M., Berlin, Bern [usw.]: Peter Lang, 2016. 304 S., 2 Tab. = Eastern and Central European Studies, 5. ISBN: 978-3-631-66712-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/von_Werdt_Ijaes_Res_publica_redefined.html (Datum des Seitenbesuchs)

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