Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Dieter Bacher

 

Johannes-Dieter Steinert: Deportation und Zwangsarbeit. Polnische und sowjetische Kinder im nationalsozialistischen Deutschland und im besetzten Osteuropa 1939–1945. Essen: Klartext, 2013. 306 S. ISBN: 978-3-8375-0896-3.

Während des Zweiten Weltkrieges wurden rund 13,6 Millionen ausländische Arbeitskräfte im „Dritten Reich“ zur Zwangsarbeit eingesetzt. Zirka 8,4 Millionen von ihnen waren aus den besetzten Gebieten verschleppte Zivilisten, die vor allem in Landwirtschaft und Industrie Arbeit verrichten mussten. Zu den ersten, die dieses Schicksal traf, gehörten Polen. Von 1939 bis 1945 wurden rund 1,9 Millionen polnische zivile Zwangsarbeiter herangezogen. Was bei dieser ansonsten sehr heterogenen Gruppe hervorsticht: Ein sehr großer Teil der polnischen Arbeitskräfte war bei seiner Verbringung nach Deutschland jünger als 18 Jahre.

Genau auf diese Altersgruppe konzentriert sich der an der University of Wolverhampton tätige Johannes Dieter Steinert. Der vorliegende Band ist der erste einer zweibändigen Publikation, die das Ergebnis von mehr als fünfjährigen Forschungsbemühungen darstellt, und widmet sich im Speziellen jugendlichen Zwangsarbeitern aus Polen.

Steinert stützt seine Studie sowohl auf schriftliche Quellen als auch auf Interviewsammlungen. Insbesondere der zweite Zugang ist für ihn von großer Bedeutung, da „von den ehemaligen Besatzungsverwaltungen nur wenige Dokumente den Krieg und den von Berlin erteilten Vernichtungsbefehl überlebt und den Weg in die Archive gefunden“ (S. 16) hätten. Nichtsdestoweniger ist die verwendete Aktengrundlage beachtlich: Sie stammt aus deutschen, vielen mittel- und osteuropäischen und auch amerikanischen Archiven.

Nach Meinung des Autors ist zwar ausgiebig über Zwangsarbeit geforscht worden, aber „die historische Forschung über diejenigen, die diese Arbeit haben leisten müssen“, stehe „immer noch in ihren Anfängen“ (S. 17). Und deren Erfahrungen sind Steinerts wichtigster Forschungsgegenstand und eben sie seien vor allem über Oral History zugänglich.

Der Autor widmet sich speziell den „von Kindern gemachten Erfahrungen und ihre Erinnerungen“. Unter Kindern versteht er Personen, die bei ihrer „Rekrutierung“ für den Arbeitseinsatz das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. Der Autor gliedert seine Arbeit in zwei „Hauptteile“, die sich an den grundlegenden „Erfahrungen“ ausmachteanlehnen: an die „Erfahrung der Deportation“ und die „Erfahrung der Zwangsarbeit“. Eine methodische Einleitung steckt u. a. die in der Studie verwendeten Begriffe „Zwangsarbeit“ und „Kinderzwangsarbeit“ klar ab. Dies sei insbesondere in Bezug auf den Einsatz in den besetzten Gebieten selbst notwendig, da hier die Grenzen zwischen Zwangsarbeit und etwa „Kollaboration“ mit den Besatzern für die Forschung teilweise nur schwer zu ziehen sei. Nach Steinerts Meinung sollte die „individuelle Erfahrung“ (S. 23) als Kategorie zur Beurteilung des Zwangs eine erheblich größere Rolle spielen.

Im ersten Teil zur Deportation stützt sich Steinert vor allem auf Aktenmaterial und ergänzt die Darstellung mit stellenweise eingeflochtenen Aussagen aus analysierten Interviews. Daraus ergibt sich eine umfassende, detailreiche Analyse. Insbesondere die Frage, inwiefern germanisierungspolitische Pläne und Maßnahmen in die Rekrutierung und Verbringung von jugendlichen polnischen Zwangsarbeitern hineinspielte, hat in der Zwangsarbeiterforschung bislang verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit erfahren. Hier zeigt sich, wie stark der Zwangsarbeitseinsatz mit anderen Strategien der NS-Besatzungspolitik verknüpft war oder ihnen auch teilweise entgegenstand. Beispielsweise zeigt die Analyse des Einsatzes polnischer Mädchen als Haushaltsgehilfinnen in „arischen“ Haushalten, wie dieser einerseits von vielen als ideologisch „bedenklich“ betrachtet wurde, andererseits aber aufgrund ökonomischer Zwänge doch notwendig war.

Im Zweiten Hauptteil liegt das Gewicht stärker auf der Auswertung der Interviews. Steinert widmet sich hier ausführlicher Einzelschicksalen und bettet diese mit Hilfe von Dokumenten und vorhandener Literatur in den Kontext ein. Und auch hier gelingt es Steinert, mit dem Einsatz in den besetzten Gebieten selbst ein bislang nur sehr unzureichend bearbeitetes Thema aufzugreifen.

Ein kurzes Abschlusskapitel geht auf das Schicksal der Betroffenen zu Kriegsende und in der Nachkriegszeit ein und bietet eine inhaltliche Zusammenfassung. Ersteres hätte etwas umfangreicher ausfallen können. Die vom Autor verwendeten Akten (u. a. diejenigen der UNRRA) und Interviews hätten vermutlich mehr interessante Informationen liefern können.

Die Publikation Steinerts ist eine inhaltlich und methodisch sehr solide Arbeit zum Thema Zwangsarbeit. Sie wählt einige neue Zugänge aus und hält selbst für Kenner der Thematik zahlreiche neue Aspekte bereit. Die auf breiter Quellenbasis verfasste, sehr detailreiche Studie zu polnischen Kindern und Jugendlichen im Zwangsarbeitseinsatz ist daher eine grundlegende Lektüre für jeden, der sich im engeren weiteren Sinn mit dem Phänomen der NS-Zwangsarbeit befasst.

Dieter Bacher, Graz

Zitierweise: Dieter Bacher über: Johannes-Dieter Steinert: Deportation und Zwangsarbeit. Polnische und sowjetische Kinder im nationalsozialistischen Deutschland und im besetzten Osteuropa 1939–1945. Essen: Klartext, 2013. 306 S. ISBN: 978-3-8375-0896-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Bacher_Steinert_Deportation_und_Zwangsarbeit.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2017 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Dieter Bacher. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.