Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Liliya Berezhnaya

 

Mykhailo Hrushevsky: History of Ukraine-Rus’. Vol. 6: Economic, Cultural, and National Life in the 14th to 17th Centuries. Transl. by Leonid Heretz. Ed. by Myron M. Kapral / Frank E. Sysyn with the assistance of Uliana M. Pasicznyk. Edmonton, Toronto: CIUS, 2012. LXV, 619 S., 2 Ktn., 1 Abb., 1 Tab. = The Hrushevsky Translation Project. ISBN: 978-1-894865-25-8.

Bei der hier anzuzeigende englischen Übersetzung der 10 Bände (in 11 Büchern) der monumantalen Geschichte der Ukraine-Rus’ von Mychajlo Hruševskyj (1866–1934), des Patriarchen der ukrainischen Historiografie, handelt es sich um ein langjähriges Projekt, das durch das Kanadische Institut für Ukraine-Studien (CIUS) in Edmonton, Alberta, verwirklicht wird. Der sechste Band umfasst, in der Terminologie Hru­ševskyjs, die sogenannte „Übergangsperiode“ der ukrainischen Geschichte, mit ihrem Anfang in der Mitte des 14. Jahrhunderts bis zu den Kosakenkriegen am Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert. Eine genauere Charakterisierung dieser Periode hatte Hru­ševskyj bereits in der Einleitung zu seinem opus magnum präsentiert. Die Rede ist demzufolge von den Zeiten der polnisch-litauischen Herrschaft über die ukrainischen Länder. Für Hruševskyj war das eine Periode der Abschwächung des byzantinischen Einflusses auf das kulturell-politische und ökonomische Leben der ukrainischen Gesellschaft und der zunehmenden Einwirkung westlicher Elemente. Ferner notierte er eine Zunahme sozialer Gegensätze, zum Ausdruck kommend in nationalen und religiösen Tönen, als Reaktion auf die polnisch-katholische Expansion in Politik und Ökonomie.

Der sechste Band erschien zuerst 1907 in Kiev und erlebte eine Neuausgabe in New York 1955. Die jüngste ukrainische Ausgabe erfolgte 1995. Sämtliche Ausgaben der Geschichte der Ukraine-Rus Hruševskyjs (sowohl in der postsowjetischen Ukraine wie auch jenseits ihrer Grenzen) waren Versuche der „Rückführung Hruševskyjs in seine Heimat“, abseits politischer Barrieren und Beschränkungen durch die Zensur. So wie die anderen Ausgaben ist auch das kanadische „Hruševskyj-Projekt“ bestimmt, um den Leser mit den Errungenschaften ukrainischer Kultur und Geschichte bekannt zu machen, und damit zugleich ein Versuch, Hruševskyj wieder in den Kontext europäischer Nationalgeschichtsschreibung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts einzufügen. Im Unterschied zu vorhergehenden Ausgaben allerdings stellt die kanadische Publikation in der erstklassigen Übersetzung von Leonid Heretz nicht nur einfach eine englische Version des Bekannten dar, sondern auch eine vollwertige akademische Ausgabe mit aktueller Bibliografie, mit Kommentaren, Index und einer Reihe wertvoller Zusätze wie Angaben zu Geldwährungen und Maßeinheiten, einer chronologischen Tabellen der Hetmane und Monarchen und einigen historischen Karten. Ferner ist die Ausgabe mit zwei Einleitungen versehen, nämlich vom leitenden Redakteur der gesamten Hruševskyj-Ausgabe, Frank E. Sysyn, und dem Herausgeber und Berater für den sechsten Band, Myron Kapral. Sysyn unterstreicht die Bedeutung der Ausgabe für weitere Forschungen auf den Feldern der Ökonomie, Soziologie, des politischen und des kirchlichen Lebens, der Kultur und interethnischer Beziehungen in den ukrainischen Ländern während der fraglichen Periode. Auch macht er den Leser mit der Schwierigkeit der Übersetzung der Ethnonyme und Toponyme im Text Hruševskyjs in zeitgenössisches Englisch bekannt.

Die Einleitung Kaprals stellt eine detailliertere Analyse der Ansichten und Herangehensweisen Hruševskyjs im Hinblick auf die „Übergangsperiode“ dar. Unter Redaktion und aktiver Mitwirkung von Kapral sind bereits eine Reihe von Hruševskyj-Ausgaben auf Ukrainisch erschienen. Der aus L’viv stammende Historiker ist ferner Autor einer Reihe von Aufsätzen über den Platz der Forschungen Hruševskyjs in der ukrainischen Historiografie. So wie in früheren Publikationen unterstreicht Kapral das Verdienst Hruševskyjs, als erstes in der Geschichtsschreibung die westlichen und östlichen ukrainischen Gebiete als einheitlichen Gegenstand historischer Forschung dargestellt zu haben. (S. XXXI) Als überaus wertvoll in der kanadischen Ausgabe erscheinen übrigens Kaprals Einschätzung, wie die gegenwärtige ukrainische Historiografie die Interpretationen Hruševskyjs der frühneuzeitlichen Geschichte inzwischen neu bewertet. Kapral verweist auf neue Zugänge in der Kultur- und Religionsgeschichte, Forschungen zum walachischen Recht auf ukrainischem Gebiet, zur Lage und den Rechten der Frau in der Gesellschaft jener Zeit, sowie zur kolonialen Politik und zur Polonisierung des Adels. Außerdem macht er – zu Recht – aufmerksam auf die von Hruševskyj noch ignorierten Kriterien der Staatsbildung in der frühneuzeitlichen Ukraine. Fraglos sind diese weißen Flecken durch die „volkstümlerischen“ (narodničeskie) Positionen des Autors der Geschichte der Ukraine-Rus bedingt, denen zufolge „der Nation als dem Volk“ (nation as people) eine Schlüsselrolle in der Geschichte zukommt. Als Folge davon wird durch Hruševskyj dem polnischen (in deutlich geringerem Umfang auch dem litauischen) Element in der Geschichte der Ukraine eine ausgesprochen negative Rolle zugewiesen. Eine Kritik der „volkstümlerischen“ Positionen Hruševskyjs zur polnisch-litauischen Periode der ukrainischen Geschichte wurde zuvor bereits von Serhii Plokhy unternommen, insbesondere in dessen Studie Unmaking Imperial Russia. Mykhailo Hrushevsky and the Writing of Ukrainian History (Toronto 2005). So wie auch Kapral sieht Plokhy ein grundlegendes methodisches Problem der historischen Konzeption Hruševskyjs in dessen Versuchen, im gesamtstaatlichen polnisch-litauischen Organismus der Zeit ein „ukrainisches Element“ zu isolieren. In den Augen gegenwärtiger Historiografie erscheint eine solche „Untergliederung“ eines kulturellen Gesamterbes voreingenommen und zugleich inkonsequent. Nach Ansicht Plokhys sah Hruševskyj eine prinzipielle Ursache des polnisch-ukrainischen Antagonismus seiner eigenen Zeit in der Tradition der Auseinandersetzung zweier frühmoderner Nationen um die Hegemonie in einem Grenzgebiet. Kapral macht im ausführlichen Schlussteil seiner Einleitung darauf aufmerksam, dass Hruševskyjs Versuche, die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des polnischen und litauischen Staates in ukrainische, polnische und litauische Komponenten zu unterteilen, bis heute bei den Historikern auf Kritik stößt. Das ist dann auch ein Grund, um den sechsten Band der „Geschichte der Ukraine-Rus“ ein weiteres Mal kritisch zu lesen. (S. LIX)

Der Band besteht aus 6 Abschnitten: Im ersten davon, Economic life: trade and urban infrastructure, macht Hruševskyj darauf aufmerksam, dass das deutsche frühmoderne Handelssystem in den ukrainischen Gebieten weniger Verbreitung gefunden habe als in seit altersher polnischen Gebieten. (S. 56) Einen wesentlichen Grund dafür sieht Hruševskyj in einer systematischen Diskriminierung ukrainischer Stadtbürger und Handwerker durch die polnischen Obrigkeiten. Der Verfall von Handwerk und Handel unter den Bedingungen schwacher Entwicklung der Städte, die noch in der Kiever Rus blühende Zentren gewesen waren, erreichte seinen Höhepunkt an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. (S. 106–107)

Im zweiten Abschnitt, Rural economy, untersucht Hruševskyj das Anwachsen der Landwirtschaft in der fraglichen Periode. Während anfangs einige Schichten der agrarischen Bevölkerung sogar noch völlig vom Geldverkehr ausgeschlossen waren, hatten sich zum Ende der „Übergangsperiode“ Holzindustrie, Kohleabbau und einige andere Produktionszweige bereits zu Exportwirtschaften umorientiert. Besonders der Getreideexport florierte in den nördlichen und westlichen Regionen der Ukraine. Hruševskyj ist der Ansicht, dass im Anwachsen des landwirtschaftlichen Exports adlige Landbesitzer eine besondere Rolle spielten. (S. 181)

Der dritte Abschnitt Cultural and national relations: the population’s national composition and national elements beschäftigt sich mit den ständischen Strukturen der westlichen, zentralen und östlichen Ukraine. Hruševskyj untersucht die ethnische Zusammensetzung der Magnaten, der Szlachta, der Städter und Bauern und hat dabei den Grad ihres nationalen Selbstbewusstseins und ihres Widerstands gegen die Polonisierung im Auge. So kommt er beispielsweise auf der Basis von Registern von der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert zu dem Schluss, dass die Städter und Bauern der Zentral- und Ostukraine nur einem unbedeutenden Einfluss durch die polnische Kultur unterlagen. (S. 228) Demgegenüber waren die Szlachta und die Städter der westlichen Regionen in hohem Maße polonisiert.

Im folgenden vierten Abschnitt Everyday life and culture, wendet sich Hruševskyj Fragen der Konfession als Faktor der Formierung ukrainischer Identität zu. Für ihn stand der orthodoxe, „ruthenische“ (frühmoderne ukrainische und weißrussische) Glaube der polnischen katholischen Tradition gegenüber. Zur Antwort auf die Frage, welcher der Faktoren – der religiöse oder der ethnisch-nationale – grundlegend war bei diesem Gegensatz (S. 232), verweist Hruševskyj auf die Tatsache politischer, ukrainisch-polnischer zwischenstaatlicher Gegensätze in der Fürstenzeit (besonders im 11. Jahrhundert). Das Anwachsen konfessioneller Gegensätze verfolgt Hruševskyj lediglich seit dem 14. Jahrhundert, und nur in den westukrainischen Regionen. Seiner Meinung nach waren sie wiederum bedingt durch die „polnische Okkupation der Westukraine“. (S. 235) In diesem Abschnitt analysiert er weiterhin im Detail das Eindringen westlicher Elemente in die Steinarchitektur der Ukraine, die Handwerkskunst und die Ikonografie der „Übergangsperiode“. Das Kapitel endet mit Hruševskyjs Schlussfolgerungen zum Verfall, zur „Lethargie des geistigen Lebens“ des ukrainischen Adels (S. 305), der sich selbst vom Anliegen einer Verteidigung nationaler und religiöser Interessen verabschiedet habe.

Der fünfte Abschnitt The cultural and religio-national movement in Ukraine in the sixteenth century gilt, wie aus dem Titel schon hervorgeht, der Frage der grundlegenden Ausrichtung der weiteren Entwicklung des kulturellen und religiösen Lebens in den ukrainischen Gebieten. Hruševskyj bewertet im Ganzen den Zustand der adligen nationalen Kultur des 16. Jahrhunderts negativ, verweist aber auf die positive Wende gegen Ende dieses Jahrhunderts. Seiner Meinung nach sind Entwicklungen wie die Gründung der Ostroger Akademie oder die Bildungstätigkeit der orthodoxen Bruderschaften wesentliche Indikatoren einer nationalen Wiedergeburt.

Im abschließenden sechsten Teil The struggle for and against the Church Union after its declaration – in life and in literature wendet sich Hruševskyj der Geschichte der Brester Union in den ukrainischen Gebieten zu. Hier nimmt er im Detail die Dokumente zur Verkündung der Union sowie die daran anknüpfende religiöse Polemik unter die Lupe. Für Hruševskyj ist auch der politische Faktor in den Debatten um die Union von Bedeutung, insbesondere die Position des polnisch-litauischen Staates. Er kommt am Ende zu dem Schluss, dass es die Schwäche der orthodoxen kirchlichen Strukturen war, die zum schlussendlichen Triumph der Union und zur Niederlage der Orthodoxie geführt habe. Die Mittel und Methoden der bestehenden sozialen und politischen Systeme waren zu Beginn des 17. Jahrhunderts ebenfalls erschöpft. Darum zog die Zeit der ukrainischen Kosaken und damit sozialer und politischer Veränderungen herauf. Cossackdom now moved decisively beyond the limits of narrow class interests to become a force and representation serving the nation as a whole.(S. 463) Der Geschichte der Kosakenkriege sind dann die nächsten drei Bände der Geschichte der Ukraine-Rus gewidmet.

Der sechste Band schließt mit bibliographischen Noten Hruševskyjs zu verschiedenen Themen, die in den vorherigen Studien berührt wurden, wie etwa Wirtschaftsgeschichte, Schwarzmeerhandel im 14.–15. Jahrhundert, Heraldik des ukrainischen Adels, Schulsystem, Buchkultur, Ukrainische Volkslieder (dumy), künstlerische Kultur, Alltagsleben, protestantische Gemeinden, religiös-nationale Bewegung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Fürst Konstantin Ostrožs’kyj und seine Familie, und die orthodoxen Bruderschaften. Sämtliche dieser bibliographischen Notizen sind durch die Herausgeber des Bandes mit Angaben zur neueren Historiographie zu den betreffenden Themen ergänzt worden.

Diese und andere Ergänzungen machen den Band nicht nur für Historiker der Ukraine wertvoll, sondern auch für Studenten, Osteuropa-Interessierte und schließlich für alle, die sich mit der sozialen, kulturellen und religiösen Geschichte der Frühen Neuzeit befassen. Das Werk bleibt – nun auch für einen weiteren, englischsprachigen Leserkreis zugänglich – eine Fundgrube für eine Vielfalt von Themen der osteuropäischen Geschichte, zugleich ein Zeugnis für einen Prozess des nation building am Ende des langen 19. Jahr­hunderts mit Aktualisierungen, die den neuesten Stand kritischer Historiographie vermitteln.

Liliya Berezhnaya, Münster

Zitierweise: Liliya Berezhnaya über:

Mykhailo Hrushevsky: History of Ukraine-Rus’. Vol. 6: Economic, Cultural, and National Life in the 14th to 17th Centuries. Transl. by Leonid Heretz. Ed. by Myron M. Kapral / Frank E. Sysyn with the assistance of Uliana M. Pasicznyk. Edmonton, Toronto: CIUS, 2012. LXV, 619 S., 2 Ktn., 1 Abb., 1 Tab. = The Hrushevsky Translation Project. ISBN: 978-1-894865-25-8

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