Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Dietrich Beyrau

 

Alter L. Litvin: Žizn kak vyživanie. Vozpominanija i razmyšlenija o prošlom. Moskva: Sobranie, 2013. 279 S. ISBN: 978-5-9606-0123-8.

Alter L. Litvin, 1931 in Kazan geboren, gehört zu den sowjetisch-russischen Historikern, die mit ihren Forschungen zur sowjetischen Geschichte auch außerhalb Russlands Aufmerksamkeit gefunden haben. Dies geschah nicht zuletzt deshalb, weil er mit Öffnung der Archive die sowjetische Geschichte empirisch und frei von den Zwängen „historischer Gesetzmäßigkeiten“ präsentieren konnte. Dabei ist er nicht ins Fahrwasser einer Dämonisierung der sowjetischen Vergangenheit geraten. Mit zwei Themenfeldern hat er große Beachtung gefunden: mit seiner Synthese des Bürgerkrieges, dem roten und weißen Terror als konstitutivem Anfang der sowjetischen Geschichte und mit den Dokumentationen über die Repressalien der Stalinzeit. Er kommentierte und publizierte Dokumente über Verhöre, Prozesse und Repressalien aller Art, u. a. gegen Fanni Kaplan, von der er sich sicher ist, dass sie nicht auf Lenin geschossen hat, gegen Boris Savinkov und seine schwer zu erklärende angebliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der OGPU, gegen Evgenija Ginzburg, den Vater und Onkel Boris Elcins und viele andere Personen, die in dieser oder jener Form mit Kazan verbunden waren.

Nach einem ausführlichen Interview, das lohnt, begleitend gelesen zu werden (Ben Eklof: Interview with Professor Alter Lvovich Litvin, in: Kritika 12, 2011, S. 941–966), hat er nun seine Erinnerungen vorgelegt. Sie gewähren einen Einblick in seine Arbeit, in seine Netzwerke und seine Lebenswelt als Historiker der sowjetischen Geschichte. Sie ergänzen seinen zusammen mit J. H. Keep bereits 2001 publizierten Überblick darüber, wie man die Geschichte Sowjetrusslands im 20. Jahrhundert geschrieben hat (Alter L. Litvin: Writing History in Twentieth Century Russia. A View from Within. Transl. and ed. by John Keep. Houndsmills, Basingstoke 2001, rezensiert von Hans Hecker in: JGO 54, 2006, S. 614–615).

In den Memoiren schildert er sein privates ebenso wie – hauptsächlich – sein berufliches Leben. Die Besprechung wird sich auf letzteres konzentrieren.

Folgt man der Erzählung der Erinnerungen haben zwei Faktoren den Verfasser maßgeblich geprägt: seine jüdische Herkunft und die Verhaftung des Vaters 1941 wegen einer Anekdote, die ihm zugeschrieben wurde. Alter hatte mit dem Etikett zu leben, Sohn eines „Volksfeindes“ zu sein. Väterlicherseits waren alle Verwandten im Laufe der dreißiger Jahre aus Weißrussland nach Kazan gezogen; die Verwandten mütterlicherseits, die im Gebiet Vitebsk geblieben waren, wurden alle mit Ausnahme eines Onkels während des Holocausts ermordet. Dies erfuhr der sechzehnjährige Junge auf einer Erkundungstour im Gebiet seiner Großeltern. Die Fernwirkung dieser Erfahrung zeigte sich, als er bei einem späteren Gastaufenthalt an der Universität Gießen, der Partneruniversität Kazans, gefragt wurde, ob er nicht im wohlhabenderen Deutschland bleiben wolle. Er lehnte dies mit dem Hinweis ab, er könne nicht im Land der Mörder seiner Verwandten leben. Es entspricht dem Stil Litvins, dass er seine Absage nicht so drastisch formulierte (S. 206).

Die jüdische Herkunft spielte für Litvin aber insofern eine Rolle, als sie ihn in vielerlei Hinsicht beruflich behinderte. So durfte er nicht Physik studieren, weil in der Zeit des „Antikosmopolitismus“ Juden nicht in die Physik als Geheimwissenschaft rekrutiert werden sollten. Das Studium der Geschichte war nur die zweite Wahl. Auch hier musste er seinem Umfeld beweisen, dass er besser war – und er passte sich dem Mainstream an, indem er genehme Themen für seine diversen Abschlussarbeiten und auch für seine Kandidatendissertation auswählte. 1963 bis 1979 war er Dozent und dann Professor für sowjetische Geschichte am Pädagogischen Institut in Kazan. Als Jude hatte er zunächst wenige Chancen für eine Anstellung an der Universität (S. 20–21, 47, 130 ff.). Wissenschaftlich-historisches Arbeiten blieb möglich als Mitarbeiter am Museum und an der Filiale der Akademie in Kazan. Dann verließ er das Pädagogische Institut wohl nicht ganz freiwillig, um an einem Technischen Institut für Chemie 1979 bis 1985 ausgerechnet einen Lehrstuhl für „Wissenschaftlichen Kommunismus“ einzunehmen. Die Kunst in diesem Fach bestand darin, Leerformeln des Marxismus-Leninismus immer neu zu drechseln. Schon als Schüler und Student hatte er Stalintexte „bis zur Betäubung“ (do odurenija) pauken müssen (S. 58). Erfahrungen in dieser Disziplin sammelte er, als er ein Buch über den Weg Tatarstans in den Kommunismus verfasste und (erfolgreich) darum bettelte, dass der Text nicht veröffentlicht würde (S. 86–87).

Dramatisch verlief seine Promotion zum Doktor der Wissenschaften. Das Thema war das Verhalten der Bauern an der Mittleren Wolga im Bürgerkrieg. Seine Arbeit im Museum, die Arbeit im Institut für Marxismus-Leninismus (einschließlich des Genusses von Pulverkaffee) und Kontakte zu Historikern in Moskau und Leningrad erschlossen ihm viele Quellen. Ein anonymer Rezensent warf ihm aber eine zu bauernfreundliche Haltung vor. Seine jüdische Herkunft und die Angst, er könne nach der Promotion ausreisen wollen, spielten auch eine Rolle bei dem sechsjährigen Hindernislauf zur Doktorpromotion (S. 94 ff., 107 ff.). 1985 wechselte er schließlich auf einen Lehrstuhl für die Geschichte der Sowjetunion an der Universität von Kazan, seit 1989 etablierte er den Lehrstuhl für Historiographie und Quellenkunde, was seinen intensiven Forschungen in Archiven entsprach.

Jüdischsein bedeutete für Litvin zunächst wohl nicht viel mehr als einen diskreten Umgang mit dem Holocaust, immer wieder vorkommenden Benachteiligungen, aber auch zunächst eine große Anpassungsbereitschaft und einen wohl besonders engen Umgang mit Kollegen jüdischer (und tatarischer) Herkunft. Hier sei nur auf seine Zusammenarbeit mit dem tatarischen Literaten Ajaz Giljazov verwiesen, mit dem zusammen er historische Gestalten auf die Bühne brachte und historische Ereignisse in Romanen fiktionalisierte (S. 265 ff.). Auffällig ist sein nachsichtiges Urteil über den Historiker I. I. Minc, den Doyen der stalinistischen Geschichtsschreibung über die Revolution und den Bürgerkrieg. Dessen ganzes Leben sei geprägt gewesen vom Schrecken und der Einschüchterung der Stalinzeit (S. 247). In Minc, der seine eigenen Überlebensstrategien entwickelt hatte, fand Litvin einen wohlwollenden Protektor, der ihn mehr mit Rat als mit Tat durch das Abenteuer der Doktorpromotion begleitete. Wenn Minc in lebensbedrohlichen Situationen überlebt haben mag, so Litvin in einer von Zensur, Anpassung und Diskriminierung geprägten Umwelt.

Ein weiterer Faktor, der das wissenschaftliche Engagement Litvins seit dem Tauwetter maßgeblich bestimmte, war sein Status als Sohn eines „Volksfeindes“ und sein auch biographisch begründetes Interesse für die Opfer der Repressalien unter Stalin. Litvin blieb trotz einiger Dissonanzen wohl bis in die Zeit der Perestrojka sowjetisch loyal. In einem sehr allgemeinen Sinne folgte er den herrschenden Doktrinen, soweit sie seinem Verständnis von solider, archivgestützter Forschung nicht zu sehr widersprachen. Gelegentliche Konflikte mit der Zensur wie im Fall des Tagebuchs des Historikers S. A. Piontkovskij (S. 104 ff., 224–225) (Dnevnik istorika S. A. Piontkovskogo (1927–1934). Kazan 2009), einer behördlich nicht genehmigten Zitierung Lenins (S. 75 ff.) oder die kuriosen Beschränkungen der Archivarbeit, wie er sie in Kritika beschreibt, gehörten zur sowjetischen Routine.

Die Öffnung der Archive und die nun, wenn auch eingeschränkt mögliche Arbeit in den Archiven des SFB – als Mitglied der Rehabilitationskommission (seit 1992) – bestimmten die Geschichtsschreibung über den Bürgerkrieg und über die Opfer des Terrors der dreißiger Jahre. Geschichtsschreibung blieb eine umkämpfte Sache historischer Aufarbeitung. Den Bürgerkrieg deutete er nun als einen auf allen Seiten äußerst brutalen Kampf um die Macht, in dem sich alle kämpfenden Parteien an der Bevölkerung versündigten (Alter L. Litvin: Krasnyj i belyj terror v Rossii 1918–1922 gg. Kazan 1996 / Moskva 2004). Den Terror untersuchte er hauptsächlich anhand des amtlichen Schrifttums. Litvin bemühte sich dabei eher um Verstehen als um moralische Be- oder Verurteilung, ohne den Terror und die Verantwortlichen exkulpieren zu wollen. Als Sohn eines „Volksfeindes“ trieb ihn auch die Angst um, dass eine unaufgearbeitete Geschichte sich wiederholen könnte.

Litvins Erinnerungen sind wegen ihrer Stofffülle und nicht immer sehr geordneten Darstellung ein anstrengender, aber sehr instruktiver Lesestoff. Man wird mit dem Netzwerk sowjetischer Historiker vertraut gemacht, die sich überwiegend mit sowjetischer Geschichte befassten. Befreundet war er aber auch mit Historikern der vorpetrinischen Zeit wie Aleksandr A. Zimin und Sergej M. Kaštanov, seinem Schulkameraden. Litvin beneidete die Mittelalterhistoriker um ihre größeren Spielräume, wie er sie am Streit um die Datierung des Slovo o polku Igoreve beobachtete (S. 30–31, 92–93). Als westlicher Leser, der viele der hier genannten Namen von der Lektüre ihrer manchmal materialreichen, aber in hölzernem Stil geschriebenen Monographien kennt, gewinnen manche Figuren an menschlichem Profil. Dies gilt insbesondere für diejenigen Kollegen, für die er Würdigungen geschrieben hat (S. 244278).

Litvin blickt auf ein intensives Arbeitsleben zurück. Es umfasst auch viele Auslandsreisen und Kontakte mit ausländischen Kollegen. Als engsten Kooperationspartner im Westen nennt er John Keep, mit dem er zwei Bücher über historisches Arbeiten und über die Historiographie zur Stalinzeit verfasst hat (Alter Litvin: Writing History; Alter Litvin / John Keep: Stalinism. Russian and Western Views at the Turn of the Millennium. New York 2005; Džon Kip / Alter L. Litvin: Ėpocha Iosifa Stalina v Rossii. Sovremennaja istoriografija. Moskva 2009, rezensiert von Stephan Merl in: JGO 59, 2011, S. 305–307). Sein Fazit ist – wie der Titel andeutet – eher bitter. Dies mag dem Alter und ebenso der gegenwärtigen Situation in Russland geschuldet sein, in der manche Errungenschaften‘ der neunziger Jahre wieder rückgängig gemacht worden sind.

Dietrich Beyrau, Tübingen

Zitierweise: Dietrich Beyrau über: Alter L. Litvin: Žizn’ kak vyživanie. Vozpominanija i razmyšlenija o prošlom. Moskva: Sobranie, 2013. 279 S. ISBN: 978-5-9606-0123-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Beyrau_Litvin_Zizn_kak_vyzivanie.html (Datum des Seitenbesuchs)

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