Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 6 (2016), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Dietrich Beyrau
Malen’kij čelovek i bol’šaja vojna v istorii Rossii. Seredina XIX – seredina XX v. Materialy meždunarodnogo kollokviuma (Sankt-Peterburg, 17–20 ijunja 2013 g.). Red.: N. V. Michajlov / Jan Plamper [et al.]. S.-Peterburg: Nestor-Istorija 2014. 572 S. ISBN 978-5-4469-0480-8.
Der Sammelband, aus einem Kolloquium in Petersburg hervorgegangen, rückt den sog. „kleinen Menschen“ im Krieg ins Zentrum der Überlegungen und Darstellungen. Der Band enthält 29 Beiträge in sieben Sektionen einschließlich Diskussionsbeiträgen zu jeder Sektion. Die Titel der Sektionen geben einen Eindruck von den Themenschwerpunkten: 1. Historisches Gedächtnis, 2. Religiöse und nationale Selbstbestimmung, 3. Propaganda und gesellschaftliche Stimmungen, 4. Kriegsalltag und individuelle Kriegswahrnehmung, 5. In der Etappe und an der Heimatfront, 6. Die Leningrader Blockade in der Wahrnehmung der Leningrader, 7. Krieg und Gewalt.
In der ersten Sektion geht es um die Namensgebung für Kriegsschiffe. Dabei beobachtet Vladimir Lapin eine Tendenz zur „Demokratisierung“: Soweit es um Kriegshelden geht, wurden vor dem Ersten Weltkrieg bereits Helden aus den niederen Rängen gewählt. M. S. Fedotova porträtiert Helden der Verteidigung Sevastopols im Krimkrieg und „dekonstruiert“ sie ein wenig als Haudegen, Säufer und Kleinkriminelle. Maria Ferretti kontrastiert Fronterfahrungen des „Großen Vaterländischen Krieges“ (GVK) und die Siegesrhetorik von Partei- und Staatsführung. Dies geschieht in der Annahme, dass die Fronterfahrungen authentischer seien als der unentwegte Siegesrummel, eine Hypothese, die in der Diskussion zerpflückt wurde. In der zweiten Sektion analysiert Danielle Ross tatarische baity (volkstümliche Dichtungen) und Aufrufe der muslimischen Geistlichkeit während des Welt- und Bürgerkrieges. E. E. Levkievskaja untersucht Funktion und Ausdrucksformen sowohl von Religiosität als auch von atheistisch-säkularen Bewältigungsstrategien von Soldaten im GVK. Insbesondere bei Soldaten bäuerlicher Herkunft glaubt sie, die Koexistenz teils traditionell-religiöser, teils neuer atheistisch-säkular geprägter Einstellungen zu erkennen, abhängig von der jeweiligen Sozialisation in Familie und beruflichem Umfeld.
In der dritten Sektion stellt Peter Waldron das Bild von Verwundeten während des Ersten Weltkrieges vor. In diese Sektion hätte eigentlich der Beitrag von Alexandre Sumpf (aus der siebten Sektion) über die Invaliden des Ersten Welt- und des Bürgerkrieges gehört. Auch hier geht es vornehmlich um „Repräsentation“ von Invalidität in Plakaten und Filmen. Die beiden folgenden Beiträge von Colleen Moore über Rekruten-Unruhen und von Stefan Wiese über Pogrome und Ausschreitungen im Ersten Weltkrieg hätten eigentlich in die siebte Sektion gehört: Gegen die ältere – nicht nur sowjetische – Historiographie behauptet Moore den unpolitischen Zuschnitt der Rekruten-Unruhen. Sie hätten mit dem Alkoholverbot zu tun gehabt, das eine Verletzung von überkommenen Rekrutierungsritualen bedeutete. Das Verbot habe die angehenden Soldaten in ihrer Würde als Vaterlandsverteidiger gekränkt. Ähnlich betont auch Wiese den eher zufälligen Charakter der Pogrome und Ausschreitungen von Soldaten und Rekruten: Sie seien nicht primär gegen Deutsche oder Juden gerichtet, sondern zufällig-situationsbedingt gewesen. Die Aggression richtete sich in erster Linie gegen die Schwachen der Gesellschaft. Es hängt dann vom Begriff des Politischen ab, ob die neue Akzentuierung als „(un)politisch“ zu definieren wäre. Ohne dies zu explizieren, greifen die beiden Beiträge damit eine Diskussion auf, in der es alternativ um die politisch-sozialen Ursachen von Gewalt oder um Gewalt als einem eigenständigen Akt geht, der sich aus der Dynamik und den Formen der Aktion selbst erklärt (Peter Imbusch: Der Gewaltbegriff, in: Walter Heitmeyer, John Hagan (Hrsg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden 2002, S. 26–58). Christopher Stroops Beitrag Krieg und Kultur behandelt die Propaganda aus national und religiös gestimmten Intellektuellen-Zirkeln, die bemüht waren, auch den „kleinen Menschen“ zu mobilisieren.
In der vierten Sektion vertritt E. S. Senjavskaja (zum wievielten Mal?) ihr ziemlich konfuses Konzept von einer „militärischen Anthropologie“. S. V. Andriainen liefert eine Mikrostudie zur Truppenökonomie im 19. Jahrhundert. V. Ju. Černjaev referiert aus dem Tagebuch eines Offiziers während des Russisch-Japanischen Krieges. E. Ju. Sergeev berichtet über das Personal, das im Ersten Weltkrieg als Kundschafter über die Fronten hinweg eingesetzt wurde, darunter auch Kinder. (Zumindest wurden sie verdächtigt, Spione zu sein.) Mit Recht fand in der Diskussion der Beitrag von Brandon Schechter über Gewehr und Spaten im GVK viel Beachtung. Es handelt sich um eine innovative Studie über das Verhältnis zwischen Mensch und Sachen, um die Funktion und die emotionale Aufladung dieses Verhältnisses.
In den Beiträgen von K. E. Baldin und A. Ju. Davydov (fünfte Sektion) sind die zivilen Helden des Welt- und Bürgerkrieges die Konsumkooperativen und die „Sackträger“ (mešočniki). Beide waren komplementär und zugleich konkurrierend aktiv gegenüber den staatlichen Versorgungsorganen und Vorschriften. Wie auch im Fall anderer Akteure vor allem im Weltkrieg brachte der Zusammenbruch staatlicher Autorität und der Aufschwung ziviler Initiativen nicht den Übergang in eine bürgerliche Gesellschaft. Davydovs These, dass die „Sackträger“ die Bol’ševiki zum Übergang zur NĖP gezwungen hätten, wurde in der Diskussion mit Recht bezweifelt. A. N. Zvankos Beitrag über Flüchtlingsfrauen ist informativ, wirkt aber zugleich wie ein ganz auf Emotionen setzender Aufruf zur Flüchtlingshilfe. Mit dem Zweiten Weltkrieg befassen sich die Beiträge von K. M. Aleksandrov und Irena Saleniece. Aleksandrovs Beitrag provoziert dadurch, dass er die Sicht auf die deutsche Gesellschaft von (mehr oder minder gebildeten) sowjetischen Kollaborateuren und Flüchtlingen präsentiert, die nicht in Lagern eingesperrt waren. Im Vordergrund steht der Vergleich mit der stalinschen Sowjetunion. Aus der Sicht dieses Personenkreises wirkte letztere ungleich totalitärer als das NS-Regime, das seinen Bürgern mehr Freiheiten belassen habe. Salenieces vergleichende Sicht auf deutsche und sowjetische Soldaten in der Erinnerung von Letten, vor allem wohl aus Lettgallen, hebt die größere Sympathie für die Wehrmachtssoldaten hervor, ohne allzu detailliert auf die Umstände und Modi der Befragung einzugehen.
Die stärksten Gefühlsausbrüche riefen die sechste und siebte Sektion hervor. S. V. Jarov referierte über den Hunger während der Blockade Leningrads, wie er sich in der erstaunlichen Fülle von Tagebüchern darstellt. Manchen Teilnehmern war die implizite Analyse des Hungers als eines Prozesses der Demoralisierung zu destruktiv. Sie verletzte ihre sakrale Sicht auf das Heldentum der hungernden Leningrader Bevölkerung. Und es löste Verwunderung aus (bei Jochen Hellbeck, S. 448–450, 461), dass das sowjetische Narrativ von der heldenhaften Überwindung des Hungers in den Tagebüchern mit der zunehmenden Auszehrung nicht mehr funktionierte. Nur Polina Barskova machte darauf aufmerksam, dass es vielleicht an der Zeit sei, den Leningrader Fall mit analogen Situationen des Hungers z. B. in Ghettos, während des Holodomor etc. zu vergleichen und auf diese Weise zu historisieren. Auch die folgenden Beiträge von V. L. Pjankevič und Polina Barskova sind ganz der zeitgenössischen Sicht auf das belagerte Leningrad gewidmet. Barskova besprach den in der Besatzungszeit schon teilweise, vollständig dann 1946 in München erschienenen Roman Blokada von einem Emigranten, der das blockierte Leningrad als einen „Kreis der Hölle“ mit Bösewichtern und Opfern beschreibt. Den Geschlechterbeziehungen ist der Beitrag von Jeffrey Hass gewidmet. Er wundert sich, warum sich nach dem heroischen Einsatz vor allem der Frauen für das Überleben der Stadt nicht die Geschlechterbeziehungen in der Nachkriegszeit veränderten, ohne auf diese überhaupt einzugehen. Manche Fragestellungen verwundern ebenfalls.
Die siebte Sektion über Krieg und Gewalt spannt den Bogen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg. Neben Alexandre Sumpf über die Repräsentation der Invaliden des Ersten Welt- und des Bürgekrieges beschreibt V. I. Musaev Gewaltakte der finnischen Weißen, aber auch der finnischen Roten gegen russische Soldaten und gegen die russische Bevölkerung vor allem auf der karelischen Landenge. Im Unterschied zu der eher konventionellen Darstellung dieser Konflikte geht es Igor’ Narskij in seinem Beitrag Was die Zeitgenossen des Bürgerkrieges tatsächlich als Grausamkeit wahrnahmen darum, vor der Übertragung heutiger Wert- und Wahrnehmungs-Maßstäbe auf die Zeitgenossen des Bürgerkrieges zu warnen. V. P. Buldakov spricht von der Gefahr eines „ethischen Präsentismus“ (S. 546). Sein Verfahren demonstriert Narskij mit einer dichten Beschreibung von Gewaltakten durch Zeitgenossen. Zudem versucht er – was mich nicht überzeugt –, auch Bewältigungsstrategien durch sprachliche Anpassung an die Narrative der jeweiligen Sieger zu belegen. Es dürfte sich hierbei weniger um Bewältigungs-, als um simple Anpassungsstrategien handeln. Masha Cerovics Beitrag ist den Rachegefühlen und -aktionen von Partisanen während des GVK im besetzten Gebiet gewidmet. Die Entstehung des Partisanenwesens führt sie weniger auf Moskauer Befehle und sowjetische Propaganda zurück, sie sieht sie vielmehr als Reaktion auf Erfahrungen in den Kriegsgefangenenlagern. Die Beispiele von als Spektakel inszenierten Racheakten zeigen, dass sich diese mehr noch gegen die tatsächlichen oder vermeintlichen einheimischen Kollaborateure als gegen die deutschen Besatzer richteten.
Angesichts der gegenwärtigen „Fetischisierung“ des GVK in Russland (N. B. Lebina, S. 453) stieß Kerstin Bischls Beitrag über Alltag und sexuelle Gewalt der Rotarmisten auf Widerspruch und wohl auch auf Empörung. Ihre Argumentation läuft darauf hinaus, dass in der militärischen Hierarchie der Armee Frauen (als Soldatinnen oder Hilfspersonal) vor allem als Sexualobjekt behandelt wurden. Sie konnten sich nur dadurch vor Übergriffen schützen, dass sie sich einen mächtigen und möglichst angenehmen „Protektor“ suchten. In den besiegten Ländern durften sich dann auch einfache Soldaten Frauen als Siegestrophäe aneignen. Dies konnte gewaltsam oder auch durch mehr oder minder gewaltfreie Werbung geschehen.
Die Stärke des Sammelbandes liegt vor allem in den vielen Mikrostudien, die sich auf Situationen und auf Aspekte von Kriegserfahrungen beziehen. Die Gefahr besteht allerdings darin, dass man sich vor lauter Details für den weiteren Kontext nicht interessiert oder ihn als bekannt voraussetzt. Paradigmatisch gilt dies für Andriainens Beschreibung der Truppenökonomie, die nur verständlich wird vor dem Hintergrund der in Russland immer noch dominierenden vergleichsweise wenig kommerzialisierten Landwirtschaft und der Exekutivschwäche des Staates (J. St. Bushnell: Peasants in Uniform. The Tsarist Army as a Peasant Society, in: Journal of Social History 13 [1980], 4, S. 565–576; Dietrich Beyrau: Militär und Gesellschaft im vorrevolutionären Russland. Köln [usw.] 1984).
Mit Recht ist zum Beitrag von Kestin Bischl darauf verwiesen worden, dass die Übergriffe der Rotarmisten nicht nur aus den Binnenverhältnissen der Armee erklärt werden können, sondern auch mit der anomischen Situation in den besiegten Ländern (Laura Engelstein S. 545) und dem Chaos der konkurrierenden sowjetischen Besatzungsinstanzen zu tun haben. (Filip Slaveski: The Soviet Occupation of Germany. Hunger, Mass Violence, and the Struggle for Peace, 1944–1947. Cambridge 2013)
Hilfreich wäre ein Resümee gewesen (statt der Wiedergabe manchmal ausufernder Diskussionen) – und die lateinische Transkription der nichtrussischen Namen.
Zitierweise: Dietrich Beyrau über: Malen’kij čelovek i bol’šaja vojna v istorii Rossii. Seredina XIX – seredina XX v. Materialy meždunarodnogo kollokviuma (Sankt-Peterburg, 17–20 ijunja 2013 g.). Red.: N. V. Michajlov / Jan Plamper [et al.]. S.-Peterburg: Nestor-Istorija 2014. 572 S. ISBN 978-5-4469-0480-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Beyrau_Michajlov_Malenkij_celovek.html (Datum des Seitenbesuchs)
© 2017 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Dietrich Beyrau. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de
Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.
Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.