Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 7 (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Kirsten Boenker
Sergey V. Lyubichankovskiy: Formation and Development of Informal Associations of the Ural’s Provincial Officials at the End of the 19th Century and the Beginning of the 20th Century. With a Foreword by Kimitaka Matsuzato. Lewiston, NY [etc.]: Edwin Mellen Press, 2014. 86 S., 3 Graph. = FSR – Frontiers of Scholarly Research. ISBN: 978-0-7734-4282-5.
Fragen nach zivilgesellschaftlichen Praktiken und Akteuren im ausgehenden Zarenreich, die möglicherweise erinnerungspolitische Anknüpfungspunkte für die Gegenwart bieten, haben nichts von ihrer Relevanz verloren. Allerdings erscheinen sie für die russische Geschichtswissenschaft angesichts der boomenden zeithistorischen Forschung der letzten Jahre und der Neujustierung der Putin’schen Geschichtspolitik auf die Traditionen des russischen Großmachtstatus nicht mehr zentral. Trotz der Konjunktur, die die Geschichte der politischen Öffentlichkeit und der gesellschaftlichen Selbstorganisation des ausgehenden Zarenreiches mit der Öffnung der Archive in den neunziger Jahren des 20. und den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts auch in der russischen Geschichtswissenschaft erlebte, standen bei diesen Fragestellungen bislang vor allem die Kerngebiete des europäischen Russlands im Vordergrund. Für viele Regionen stellt das Thema angesichts der ethnischen und geographischen Vielfalt des Zarenreiches nach wie vor ein großes Forschungsdesiderat dar. Forschungen dazu sind unerlässlich, um langfristige Entwicklungen, die unterschiedlichen Trägergruppen der lokalen Gesellschaften und ihre Konsensstrategien in der Breite zu verdeutlichen.
In diesem Kontext ist die Fallstudie zu verorten, die der Orenburger Historiker Sergej Ljubičankovskij im Jahre 2014 zur Selbstorganisation von Beamten im Ural vorgelegt hat. Ljubičankovskij hat Materialien aus fünf Archiven zusammengetragen: Neben den staatlichen Archiven in Moskau und St. Petersburg (GARF und RGIA) hat er in den Staatsarchiven der Republik Baškortostan, der Gebiete Kirov, Orenburg und Perm’ gearbeitet. Der Autor rückt auf dieser breiten Quellengrundlage das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in den Mittelpunkt und fragt, wie die lokale Administration mit sozialen Konflikten umgegangen sei (S. I). Im Besonderen interessiert den Autoren offenbar, wie sich die Beamten in den zarischen Gouvernements Vjatka, Perm’, Ufa und Orenburg im Kontext der entstehenden Zivilgesellschaft als professionelle Gruppe „korporativ selbst organisiert“ haben. Dabei entwickelten sie laut Ljubičankovskij illegale und legale Mechanismen, um ihre „korporativen Interessen“ zu verfolgen (S. II). Ziel der Studie ist es somit, die „Entwicklung des Korporatismus“ in der Uraler Beamtenschaft von 1892 bis 1914 zu untersuchen (S. 4).
Diese Fragen und das auf ein unverständliches Oxymoron – „korporative Selbstorganisation“ – zielende Erkenntnisinteresse spiegeln sich nur bedingt in der Gliederung der Studie wider, die drei Kapitel zuzüglich Einleitung und Fazit umfasst. Kapitel 1 beschäftigt sich mit Korruption und Amtsmissbrauch, Kapitel 2 mit der „legal corporate self-organization“. Das letzte Kapitel widmet sich der Frage, inwieweit die Ergebnisse für den Ural auch Gültigkeit für das gesamte Zarenreich beanspruchen können. Begriffe wie „civil society“ und „self-organizing“ wecken beim Leser Erwartungen an eine komplexere Perspektive auf gesellschaftliche Entwicklungen als sie der Autor dann in den Blick nimmt. Zudem werden die Begriffe nicht definiert und das eigene Forschungsinteresse nicht mit Hilfe der durchaus kontroversen Positionen der Forschung zur Zivilgesellschaft erläutert. Auch unternimmt der Autor keinen Versuch, seine Fragen zu den Korruptionspraktiken der Beamtenschaft im Ural und ihren Versuchen, eigene Interessen zu wahren, methodisch sinnvoll in den bestehenden Forschungsstand einzuordnen und daraus entsprechende Perspektiven auf die lokale Gesellschaft und ihre Akteure zu entwickeln. Zentrale deutsche und anglo-amerikanische Studien zu diesen großen Themenfeldern hat der Autor nicht berücksichtigt.
Ljubičankovskijs Annahme ist, dass sich einerseits zivilgesellschaftliche Institutionen um die Jahrhundertwende auch im Ural rasch ausprägten, wobei auch die zarische Beamtenschaft eigene Interessen artikulierte. Diese zeichneten sie als „social corporation“ aus, weshalb die Beamten als „independent and autonomous group“ zu betrachten seien (S. 3–4). Der Autor führt diese Gedanken nicht systematisch aus. Er hat dabei aber offenbar die Beziehungen zu Staat und Gesellschaft im Sinn, denn er rekurriert wiederholt auf zunehmende Spannungen und eine Machtkrise („power crisis“) vor dem Ersten Weltkrieg. Die irritierende These des Buches lautet, dass die Beamtenschaft letztlich als Gruppe mit eigenen Interessen zwischen die Pole des Staates auf einen Seite und der Gesellschaft auf der anderen geriet. Diese Polarisierung habe sie dazu gezwungen, sich über die illegalen Mittel der Korruption und des Amtsmissbrauchs zu organisieren. Der Staat missachtete nicht nur die schlechte materielle Lage eines Großteils der Beamten, sondern verhinderte auch ihre politische wie nicht-politische Selbstorganisation. Die Gesellschaft hingegen betrachtete die Beamtenschaft als Hemmschuh des Fortschritts und prangerte deren Willkür, Amtsmissbrauch und Korruption an (S. 78). Warum Ljubičankovskij die Beamten kategorisch von der Gesellschaft unterscheidet, obwohl er zugleich darauf verweist, dass selbst Beamte auf Kreisebene Ausgaben für soziale und repräsentative Zwecke für notwendig erachteten (S. 41), erläutert er nicht. Auch wird selten klar, welche Akteure der Verfasser genau im Blick hat, wenn er von der Beamtenschaft, vom Staat oder von der Gesellschaft spricht. Weiter erfährt der Leser nicht, was genau unter Amtsmissbrauch und Korruption zu verstehen ist. Der Autor ordnet diese für die russische Kultur offensichtlich so zentralen Praktiken weder in den Kontext existierender Studien ein noch bemüht er sich um eine Begriffsschärfung.
Generell werden die Lektüre und das Verständnis der Argumentation durch ein überaus holpriges Englisch erschwert. Es ist nicht zu erkennen, ob die begrifflichen Inkonsistenzen und Ungenauigkeiten an der Übersetzung und dem wohl fehlenden Lektorat liegen, aber vermutlich wäre die Darstellung doch differenzierter ausgefallen, wenn der Autor seine Ergebnisse auf Russisch präsentiert hätte. Im ersten Kapitel untersucht er beispielsweise die Beamtenschaft nicht im Allgemeinen, sondern auf der Basis der Sitzungsprotokolle der Gouvernementsbehörde, die allerdings offenbar nur Fälle von Amtsmissbrauch durch Polizisten untersucht hat. Er begründet diese erhebliche Einschränkung des Erkenntnisanspruchs lediglich in einer Fußnote und wenig erhellend damit, dass die Polizei die größte Gruppe der Provinzadministration gewesen sei und die Gouverneure bei vergleichbaren Vorkommnissen stets ähnlich reagiert hätten (S. 16). Als kaum überraschendes Ergebnis hält der Verfasser fest: „[…] proceedings against top police officers were not in general brought before court“ (S. 17). Seine Auswertung zeichnet aber zumindest nach, dass immer weniger angezeigte Fälle von Amtsmissbrauch tatsächlich vor Gericht verhandelt wurden. Auf diese Weise entstanden persönliche Abhängigkeiten in den Beamtenhierarchien, da die leitenden Beamten die untergebenen Kollegen systematisch vor gerichtlicher Verfolgung schützen konnten (S. 16–24).
Im zweiten Kapitel arbeitet Ljubičankovskij die Einkommensverhältnisse und den Lebensstandard der Beamten im Ural heraus. Generell ist zu beobachten, dass sich die materielle Lage von mindestens einem Drittel der dortigen Beamtenschaft bis zum Ersten Weltkrieg rasch verschlechterte. Der Hauptgrund lag darin, dass die Gehaltsentwicklung bei weitem nicht mit der Preisentwicklung für Lebensmittel, Miete, Kleidung usw. mithalten konnte (S. 46). Gleichzeitig scheiterten alle Bemühungen, eine Interessenvertretung für Beamte zu gründen. Mangels Datenmaterials für eine vergleichende Perspektive verwendet Ljubičankovskij die Senatorenberichte, zeitgenössische Pressereportagen und die Perlustrationen der Geheimpolizei. Auf dieser Grundlage begründet er, dass Korruption und Amtsmissbrauch, wie sie sich im Ural als „corporate self-organization“ entfaltet hätten, im ganzen Zarenreich aufgetreten seien (S. 60).
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Studie fast alles zu wünschen übrig lässt, was den analytischen Bezugsrahmen, die Begriffe und die Verständlichkeit der Darstellung betrifft. Immerhin hat der Autor interessante Daten aus den Lokalarchiven zusammengetragen, die eine Vergleichsgrundlage bieten. Seine Studie könnte als Anlass dienen, der politischen und sozialen Selbstorganisation der Beamten ebenso wie den Korruptionspraktiken im Kontext zivilgesellschaftlicher Entwicklungen im ausgehenden Zarenreich mehr Aufmerksamkeit zu widmen.
Zitierweise: Kirsten Boenker über: Sergey V. Lyubichankovskiy: Formation and Development of Informal Associations of the Ural’s Provincial Officials at the End of the 19th Century and the Beginning of the 20th Century. With a Foreword by Kimitaka Matsuzato. Lewiston, NY [etc.]: Edwin Mellen Press, 2014. 86 S., 3 Graph. = FSR – Frontiers of Scholarly Research. ISBN: 978-0-7734-4282-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Boenker_Lyubichankovskiy_Formation_and_Development.html (Datum des Seitenbesuchs)
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