Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgl.ereviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Detlef Brandes

 

György Dalos: Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart. Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla. München: Beck, 2014. 330 S., 25 S. = ISBN: 978-3-406-67017-6.

Dalos Erzählung setzt mit der Ansiedlung deutscher Kolonisten in Russland durch Katharina II. ein, wobei er sich auf die Deutschen an der Wolga konzentriert. Da er die wichtigste Literatur zur regional und konfessionell unterschiedlichen Geschichte der Deutschen Russlands in zarischer Zeit nicht zu kennen scheint, nutzt er Zufallsfunde und es schleichen sich zahlreiche Fehler und Ungenauigkeiten in seine Darstellung ein. Sie betreffen unter anderem die Herkunft der jeweiligen Siedler, die Nationalität der „Lokatoren“ und sogar die Geographie. So legten die Mennoniten bei Dalos ihre erste Siedlung „am Ufer des Dnepr“ in Wolhynien an! (S. 22) Den Namen Luxemburg mehrerer Kolonien schreibt Dalos anfangs, später allerdings nicht mehr, nicht der kommunistischen Ikone, sondern Auswanderern aus dem Großfürstentum zu (S. 29, 184). Zwar übernahmen die Deutschen an der Wolga die russische Umteilungsgemeinde, nicht jedoch „die meisten anderen Regionen“, wie Dalos vermutet (S. 24). Die erheblichen Unterschiede in der Agrarordnung, die die wirtschaftliche Entwicklung der Wolgadeutschen behinderten und jene der übrigen Russlanddeutschen und besonders der Mennoniten förderten, sind Dalos entgangen. Er behauptet, dass die Mennoniten nicht nur den Wehrdienst verweigerten, sondern sich auch an der Selbstverwaltung nicht beteiligt hätten (S. 40). Für die Zeit des Ersten Weltkriegs stellt Dalos antideutsche Pogrome, Enteignungsgesetze und das Verbot der deutschen Sprache in den Mittelpunkt, verbindet sie allerdings mit unbewiesenen Spekulationen (S. 60, 68).

Für die Zeit seit den russischen Revolutionen stützt sich Dalos auf die einschlägige Literatur, nämlich vor allem auf die Bücher von Arkadij German und Valentina Čebotareva sowie auf ein Internet-Portal zu den Wolgadeutschen, so dass seine Darstellung zuverlässiger wird. Im Ganzen bietet er eine gut geschriebene Geschichte der Wolga-, allerdings wiederum nicht der Russlanddeutschen insgesamt, die sich an der traditionellen Periodisierung der sowjetischen Geschichte orientiert.

Als die antideutschen Erlasse nach der Februar-Revolution sistiert wurden, konnten sich auch die Deutschen in politischen Verbänden organisieren. Aus dem Verlauf der entsprechenden konstituierenden Sitzung im Wolgagebiet bringt Dalos typische Auszüge. Er behandelt die formale Autonomie, die den Wolgadeutschen nach der Oktober-Revolution zugestanden wurde. Auch in Bezug auf die Getreiderequisitionen zur Zeit des Kriegskommunismus, den Widerstand der Bauern, die Hungersnot der Jahre 1920/21, die internationale Hilfe und die langsame Erholung in der Zeit der „Neuen Ökonomische Politik“ beschränkt er sich auf das Wolgagebiet, wo nur etwa die Hälfte der Deutschen der Sowjetunion lebte. Von dieser einseitigen Sicht weicht er nur mit wenigen kurzen Seitenblicken auf andere Regionen mit deutschsprachigen Ansiedlern ab.

Den „große Umbruch“ der Jahre 1929–1931 bezeichnet Dalos als „Sowjetisierung“. Auf der Basis der Forschungen von German und Čebotareva behandelt er die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die Deportation der sog. „Kulaken“, die Kampagne gegen die Kirchen und Repressionen gegen sowjetdeutsche Intellektuelle. Bei der Schilderung der Kollektivierung und erneuten Hungersnot geht Dalos auch auf den teilweise gelungenen Versuch besonders der Mennoniten Sibiriens ein, über Deutschland nach Kanada auszuwandern. Dalos analysiert die bescheidene Industrialisierung der Wolgarepublik, die kulturellen Fortschritte und schließlich die „großen Säuberungen“ in den 1930-er Jahren.

Einige Wochen nach dem deutschen Angriff begann die Deportation der Deutschen in den asiatischen Teil der Sowjetunion, deren Vorbereitung und Durchführung sowie die Ankunft in Sibirien und Kazachstan Dalos aus der Sicht der betroffenen Wolgadeutschen schildert und analysiert. Auch das Kapitel über das Leben, Arbeiten und Sterben in der „Arbeitsarmee“, das besonders auf den Untersuchungen von Victor Krieger beruht, ist ihm gut gelungen.

Unter der Überschrift „Eine sogenannte Rehabilitierung“ untersucht Dalos die schrittweise Lockerung der Einschränkungen für die Russlanddeutschen seit der Entstalinisierung, die aber nicht zu ihrer Rückkehr in die früheren Siedlungsgebiete oder gar zur Wiederherstellung ihrer Autonomie führen könne, wie Anastas Mikojan 1965 russlanddeutschen Delegationen in Moskau erklärte. Die Enttäuschung über die geringen Zugeständnisse stimulierte eine erste Auswanderungsbewegung. Diesen Prozess bettet Dalos überzeugend in die allgemeine Geschichte der Sowjetunion ein.

Nach den ersten Reformen Michail Gorbačevs meldeten nicht nur die Krimtataren, sondern auch die Deutschen erneut ihren Anspruch auf die Wiederherstellung ihrer verlorenen „Staatlichkeit“ an. Sie kulminierte in der Gründung der Gesellschaft Wiedergeburt Ende März 1989 und ihrer Forderung nach der Erneuerung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen, gegen die sich jedoch heftiger Widerstand unter der dort ansässigen, meist russischen Bevölkerung formierte. Daraufhin entwickelte die Partei- und Staatsführung das alternative Projekt einer „exterritorialen Assoziation der sowjetischen Deutschen“, auf die sich ein Teil der russlanddeutschen Führer einließ. Zugleich wuchs die Zahl der Deutschen, die in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen wollten und ausreisten. Diese Prozesse beschreibt Dalos vor allem aufgrund einer zweibändigen Dokumentensammlung.

Zusammenfassend: Das Buch hat Stärken und Schwächen. Zu diesen gehören die uninformierten Kapitel über die Zarenzeit und die nicht begründete Konzentration auf die Wolgadeutschen, zu jenen die solide recherchierten Kapitel über die Sowjetzeit mit ihrer Empathie für das Schicksal der betroffenen Bevölkerung und der ansprechende Stil der Darstellung.

Detlef Brandes, Düsseldorf/Berlin

Zitierweise: Detlef Brandes über: György Dalos: Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart. Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla. München: Beck, 2014. 330 S., 25 S. = ISBN: 978-3-406-67017-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Brandes_Dalos_Geschichte_der_Russlanddeutschen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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