Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Alfons Brüning

 

Jolanta Kazimierczyk: Zrozumiec Rosję. Uniwersalizm w kulturze Rusi od IX do XVI wieku. [Russland verstehen. Universalismus in der russischen Kultur vom 11. bis zum 16. Jh.] Kraków: Wydawn. Avalon, 2008, 256 S. ISBN: 978-83-60448-50-2.

Russland verstehen“darum bemüht sich in diesem Buch die in Słupsk wirkende polnische Kulturwissenschaftlerin Jolanta Kazimierczyk, die sich bereits seit längerem mit Fragen der russischen Kultureigenheiten beschäftigt. Man merkt schnell, dass sie dies in einer in Polen seit langemvon Mickiewicz über Czesław Milosz bis Ryszard Kapuściński bestehenden Tradition unternimmt. Russland erscheint nämlich von vornherein als eigene, vom übrigen europäischen Kontext getrennte Zivilisation, deren Entwicklung zu erklären ist. Auch ein gewisser romantischer Zugang fehlt nicht, ein Vertrauenauf meine intuitive Wahrnehmung der Welt und [meine] Empathie, wenngleichnur die Unterstützung dieser Gefühle durch Faktenwissen die eigentliche, um nicht zu sagen die einzige Grundlage dieser Monografie sein kann, die keinesfalls den Rang einer Synthese beansprucht.(S. 8) Es soll nur eine Stimme sein in einem allmählichen Prozess des Verstehens.

Hiervon ausgehend, wird auf den folgenden Seiten aber nun eigentlich nicht mehr und nicht weniger als die altbekannte eurasische Version russischer Geschichte zwischen dem 9. Jh. und dem Ende der Regierungszeit Iwans des Schrecklichen Ende des 16. Jh. präsentiert.Uniwersalizm“ – ein zivilisatorisches Universum, das aus komplex miteinander kommunizierenden kulturellen Schichten, Richtungen, Parteiungen zusammengesetzt ist, wird dabei zum Schlüsselbegriffauch wenn dieser Schlüsselbegriff erst ganz am Ende, und dann auch nur unter Berufung auf die Wielka Encyklopedia Powszechna (PWN) von 1968 erklärt wird. (S. 248) Eingeteilt in insgesamt drei Hauptteile, führt der Text nacheinander die Aufnahme der byzantinischen Zivilisation, die Aneignung mongolischerimperialerHerrschaftsformen vom 13. bis zum 15. Jh. und die endgültige Gestaltwerdung des theokratischen Moskauer Staatswesens vor Augen. Dies geschieht vor allem im Rückgriff auf die klassischen Werke der russischen Historiographie, also Karamzin, Solovev, Platonov u. a., ferner der Kirchengeschichtsschreibung (z.B. Kartašev) und eingestandenermaßen (S. 1517) auf die Autoren der eurasischen Schule, also Vernadskij, Savickij, Sergej Puškarev, Lev Gumilev u. a. Tatsächlich mutet der Text über weite Strecken an wie eine zwar gründliche, aber auch recht eklektizistische Kompilation aus diesen Schriften. Neuere russische Literatur zu einzelnen Themenkomplexen findet man nur gelegentlich zitiert. Hinzu kommen jüngere polnische Gesamtdarstellungen zur russischen Geschichte, in denen ebenfalls das Paradigma von der zivilisatorischen Andersartigkeit des russischen Nachbarn nicht wirklich in Frage steht (Feliks Koneczny). Westliche Literatur, oder auch westliche Autoren in polnischer Übersetzung (z. B. Klaus Zernacks Studie über Polen und Russland alsZwei Wege der europäischen Geschichte, die seit dem Jahr 2000 auch in polnischer Übersetzung vorliegt) kommen ebenso wenig zum Zuge wie überhaupt Spezialpublikationen aus Zeitschriften zu Einzelthemen. Der einzige nicht (nur) polnische oder russische Autor, der es in die Bibliographie geschafft hat, ist Richard Pipes.

Das ist, bei allem guten Willen, ein ziemlich problematisches Verfahren. Zuerst einmal führt es dazu, dass der Autorin eine ganze Reihe von mehr oder minder gewichtigen Nuancen, die die Forschung der letzten Jahrzehnte angebracht hat, ganz einfach entgehen. Allein im abschließenden Kapitel erscheint dadurch etwa die Idee vom III. Rom immer noch als offizielle Staatsideologie des alten Moskau (die sie nicht war; S. 208 ff, 218), der Doppeladler im Wappen der Zaren stammt direkt aus Byzanz (und nicht aus dem diplomatischen Verkehr mit den Habsburgern; S. 195), die geläufigen Zitate von Herberstein über das despotische Regime der Zaren kommen ohne Kommentar daher (S. 201 f), und ohne den Verweis auf dessen Gewährsleute aus einer Opposition gegen Vasilij III., die es laut diesem Buch gar nicht gab. Das sind sicher nur die auffälligsten Punkte. Stets aufs Neue wird wiederholt, dass im alten Moskau die Macht des Zaren direkt von Gott kam und keinen Widerspruch duldetedies die letzte Stufe der Kombination aus byzantinischem Kaiserkult und asiatischem Despotismus. Dabei ist ein solchervon der Fachwissenschaft ansonsten offenbar kaum mehr bemühterCäsaropapismus in Wirklichkeit wohl erst von Feofan Prokopovič gegenüber Peter I. ausgesprochen worden, und letztendlich Wirklichkeit wurde er auch danach nicht. Überdies finden sich in einer durchweg als politische Geschichte, vielleicht noch als Ideologiegeschichte angelegten Darstellung nirgends echt kulturgeschichtliche Ausführungen darüber, wie die verschiedenen Ideologeme faktisch im Volk aufgenommen wurden, und wie es allgemein mit der Kirchen- und Zarenfrömmigkeit in den russischen Weiten bestellt war (nämlich weit weniger einheitlich und untertänig als dies ein Fokus auf das Zentrum suggeriert). Nicht nur dass dem Begriff desUniversalismushier der methodisch postulierte Inhalt fehlt. Hierzu hat allein schon die russische Forschung was hier nur angedeutet werden kann doch eine Menge mehr zu sagen, und das seit langem.

Zum Zweiten fragt sich der Leser irgendwann unterwegs, wieso eine historische Exkursion, die zum besseren Verständnis Russlands beitragen soll, nach der Herrschaft Iwans IV. aufhört. Ist dann schon alles Nötige gesagt? Die Antwort wird, so scheint es, gegeben in den gleichsam historiosophischen Verbindungen, die verschiedentlich gezogen werden zwischen dem Despotismus der Zaren und demjenigen Stalins, oder der Opričnina Iwans und dem NKVD (S. 239, 246 u. ö.). In diesem Zusammenhang zitiert die Autorin nicht nur einschlägige Gedanken Berdjaevs, sondern immer wieder zustimmend auch ein so zwiespältiges Œuvre wie das des erwähnten Richard Pipes. Und eine Aussage schließlich, dass für viele im nachrevolutionären Russland der Kommunismus alsVerkörperung des Geistes des Evangeliums(S. 248 f) erschienen sei, ist in dieser Form sicher nicht haltbar.

Bleibt am Ende die Frage, wie man dieses Buch lesen soll, um ihm gerecht zu werden. Sicher nur eingeschränkt als historische Einführung in die Geschichte Altrusslands; dafür ist die Darstellung zu sehr alten Werken und partikulären Interpretationen verhaftet. Ein Punkt immerhin fällt auf, dass die erwähnten russischen Werke der älteren Provenienz allesamt in nach 1990 in Russland erschienen Neuausgaben herangezogen werden. Vielleicht lässt das nicht allzu weitreichende Schlüsse zu, aber es wird im Text zuweilen davon gesprochen, dass hier auch die momentane Sicht der Russen auf sich selbst wiedergegeben werden soll. Auch in dieser Sicht firmiert Russland bekanntlich in jüngster Zeit gern wieder als eigene Zivilisation, und in der Tat hat man oft den Eindruck, es hier mit einer für den polnischen Leser adaptierten, zugleich etwas vereinfachten russischen Kulturologie (entsprechend dem neuetablierten akademischen Fach der kulturologija) zu tun zu haben. Unabhängig davon, wie man nun über die alte Frage von Russland als eigener Zivilisation oder Teil Europas denken will, diesen Blick einem nichtrussischen, namentlich polnischen Leser zu vermitteln, kann ein Beitrag zum gegenseitigen Verständnis seinaber dann müsste man dies bei der Darstellung wohl expliziter dazusagen und mit kundiger Distanz erläutern, was in Jolanta Kazimierczyks Werk aber auch nicht geschieht. Auch hier also eine verpasste Chance.

Alfons Brüning, Nijmegen

Zitierweise: Alfons Brüning über: Jolanta Kazimierczyk: Zrozumiec Rosję. Uniwersalizm w kulturze Rusi od IX do XVI wieku. [Russland verstehen. Universalismus in der russischen Kultur vom 11. bis zum 16. Jh.] Kraków: Wydawn. Avalon, 2008, 256 S. ISBN: 978-83-60448-50-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Bruening_Kazimierczyk_Zrozumiec_Rosje.html (Datum des Seitenbesuchs)

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