Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Katja Bruisch

 

David L. Hoffmann: Cultivating the Masses. Modern State Practices and Soviet Socialism, 19141939, Ithaca, London: Cornell University Press, 2011. XV, 327 S., 15 Abb. ISBN: 978-0-8014-4629-0.

Wie lässt sich erklären, dass der Höhepunkt des stalinistischen Terrors in eine Zeit fiel, in der sich die Sowjetunion als Wohlfahrtsstaat konstituierte? In „Cultivating the masses“ entwickelt David L. Hoffmann ein Interpretationsmodell, das diese gegensätzlichen Dimensionen der bolschewistischen Herrschaft integriert. Hoffmann operiert mit Eisenstadts Konzept der „multiplen Modernen“ und charakterisiert die Sowjetunion als spezifische Ausprägung des modernen Interventionsstaats, in dem Staatsfunktionäre und Experten eine gesellschaftliche Ordnung anstrebten, welche dem Staat die effektive Nutzung seiner wichtigsten Ressource, der Bevölkerung, erlaubte. Grundlegend für dieses Staatsverständnis, so Hoffmann, war die während der Aufklärung entstandene und mit dem Aufstieg der Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert weiterentwickelte Vorstellung von der Gesellschaft als einem gestaltbaren Organismus, dessen effektives Funktionieren durch den Rückgriff auf wissenschaftliche Erkenntnisse erreicht werden konnte. Seit der Französischen Revolution habe zudem der Gedanke der Volkssouveränität das staatsphilosophische Denken bestimmt. Herrschende und Beherrschte interagierten demzufolge in einem System wechselseitiger Rechte und Pflichten. Praktische Relevanz erhielt dieser ideengeschichtliche Wandel, als Regierungen mit der Herausforderung, breite Teile der Bevölkerung ihres Landes für die Kriegführung zu mobilisieren, konfrontiert waren. Am deutlichsten wurde dies während des Ersten Weltkriegs, der in allen kriegführenden Nationen zur Ausweitung staatlicher Wohlfahrtsprogramme auf der einen und zur Weiterentwicklung von Techniken zur propagandistischen Beeinflussung sowie zur polizeilichen Überwachung der Bevölkerung auf der anderen Seite führte.  

Diese Entwicklungen, argumentiert Hoffmann, hätten auch die politische und gesellschaftliche Ordnung der Sowjetunion nachhaltig geprägt. Anhand von vier Feldern – der Gesundheitspolitik, der Bevölkerungspolitik, dem Bereich der Überwachung und Propaganda sowie dem Gebiet staatlicher Gewalt – zeigt er, wie sich die Prinzipien wohlfahrtsstaatlicher Intervention in der frühen Sowjetunion mit Herrschaftspraktiken aus der Zeit des Ersten Weltkrieges verbanden. In Analogie zu den meisten kriegführenden Staaten habe der Erste Weltkrieg auch in Russland Impulse für ein Bündnis von Experten und Staatsfunktionären geliefert. Mit dem Ziel einer „Kultivierung der Massen“ erarbeiteten sie Programme zur Verbesserung der Gesundheitsfürsorge oder zur Steigerung des Bevölkerungswachstums, wobei sie ihr Hauptaugenmerk auf die Bildung und Erziehung der Bevölkerung richteten. Hoffmann kann überzeugend belegen, dass der Marxismus-Leninismus nur eines, und bei weitem nicht das entscheidende Merkmal der frühen Sowjetunion darstellte. Zentrale Elemente der sowjetischen Wohlfahrtspolitik gingen weder auf die Ideen der Bolševiki zurück, noch waren sie ein Alleinstellungsmerkmal der Sowjetunion. Was diese in erster Linie von anderen Staaten unterschied, war nicht der Traum von einer sozialistischen Transformation der Gesellschaft, sondern die Ver­stetigung von Herrschaftspraktiken aus der Zeit des Weltkrieges. Während Regierungen anderer Länder nach 1918 den Kriegszustand auch im Innern aufhoben, machten die Bolševiki Gewalt- und Propagandatechniken der Kriegszeit zur Grundlage ihres Herrschaftssystems: Der Krieg wurde institutionalisiert. Das zeitliche Zusammenfallen von wohlfahrtsstaatlichen Programmen und der massenhaften Anwendung staatlicher Gewalt gegen die sowjetische Bevölkerung in den 1930er Jahren war nach Auffassung Hoffmanns demnach kein Paradox, sondern eine Folge des Umstands, dass die sowjetische Staatsgründung in einem Moment des totalen Krieges erfolgt war.

Die Geschlossenheit des Modells hat ihren Preis. Dass die prosaische Realität des bolschewistischen Wohlfahrtsstaats in „Cultivating the masses“ nur am Rande berücksichtigt wird, kann man dem Autor nachsehen. Hoffmanns Arbeit liefert einen Ausgangspunkt für künftige Studien zu der Frage, wie der sowjetische Staat seine wohlfahrtsstaatlichen Versprechen einlöste und auf welche Weise die Bevölkerung versuchte, ihre Ansprüche gegenüber dem Staat geltend zu machen. Das größte Problem des Buches besteht vielmehr darin, dass die Konzentration auf Proklamationen, Rechtsakte und die institutionellen Manifestationen der sowjetischen Wohlfahrtspolitik die Rolle einzelner Akteure vernachlässigt. Hoffmanns Modell gerät vor allem in Bezug auf den Stalinismus an seine Grenzen. So beschreibt Hoffmann den Stalinismus zwar als distinkte Epoche, in der die Wahrheit der Partei das Wissen der Experten ablöste. Die Rolle des Diktators lässt er jedoch außer Acht. Man wird ihm zustimmen können, dass Stalins „Große Wende“ nicht zuletzt deshalb eine Zäsur darstellte, weil sie mit der Abkehr von der technokratischen Regierungspraxis der Vorjahre einherging. Dass diese Interpretation des Stalinismus zu kurz greift, zeigt sich jedoch vor allem in Bezug auf den Terror, den Hoffmann in die Tradition des modernen Ordnungsdenkens einordnet, ohne jedoch die Rolle Stalins bei der Entfesselung und der Beendigung der Gewalt zu thematisieren. Gerade hier kann Hoffmann am wenigsten überzeugen. Im Unterschied zu den staatlichen Programmen im Bereich der Gesundheits- und der Bevölkerungspolitik lassen sich die massenhaften Verhaftungen und Erschießungen eben nicht von der kulturellen Mission herleiten, welche die Bolševiki von der vorrevolutionären Intelligencija übernahmen. Und dies nicht, weil der Terror in der Praxis Willkür und Chaos bedeutete und damit jeden Traum von einer rationalen Transformation des gesellschaftlichen Lebens konterkarierte. Entscheidender ist vielmehr, dass der Terror den Anspruch einer „Kultivierung der Massen“ an sich negierte. Es mag richtig sein, dass der moderne Trend zur Unterscheidung von gesellschaftlich „nützlichen“ und „schädlichen“ Personen die Legitimierung der Gewalt erleichterte. Eine Erklärung für den Terror, der trotz der zeitgleichen Genese des sowjetischen Wohlfahrtsstaats ein zentrales Merkmal des Stalinismus war, bleibt Hoffmann allerdings schuldig.

„Cultivating the masses“ ist jedoch in mehrfacher Hinsicht wegweisend. Weder reduziert Hoffmann den Stalinismus auf das Moment der massenhaften Gewalt, noch begnügt er sich damit, das zeitliche Zusammenfallen von „Terror und Traum“ als Beleg für die immanente Widersprüchlichkeit der Sowjetunion abzutun. Neben den Arbeiten Peters Holquists stellt das Buch zudem einen der wenigen Versuche dar, den Ersten Weltkrieg in seiner Bedeutung für die Geschichte Russlands systematisch zu erfassen. Dass der Zäsurcharakter des Jahres 1917 nicht überschätzt werden darf, ist zwar inzwischen Gemeinplatz. Nachdem jedoch lange Jahre das Ende der 1920er Jahre als historische Wasserscheide gesehen wurde, liefert Hoffmanns Arbeit schlüssige Argumente dafür, die Ursprünge der sowjetischen Moderne vor der Revolution, genauer: in den Jahren des Ersten Weltkriegs, zu suchen. Die zahlreichen Verweise auf andere Länder, mit denen der Autor die Entwicklungen in Russland in ein globales Panorama des frühen 20. Jahrhunderts einordnet, machen den besonderen Reiz seines Buches aus. Dass die Erzählung eines 1000-jährigen russischen Sonderwegs, der logisch auf den stalinistischen Terror zulief, auf tönernen Füßen steht, hat Hoffmanns Studie damit ein weiteres Mal belegt.

Katja Bruisch, Moskau

Zitierweise: Katja Bruisch über: David L. Hoffmann: Cultivating the Masses. Modern State Practices and Soviet Socialism, 1914–1939, Ithaca, London: Cornell University Press, 2011. XV, 327 S., 15 Abb. ISBN: 978-0-8014-4629-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Bruisch_Hoffmann_Cultivating_the_masses.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2014 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Katja Bruisch. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.