Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 3 (2013), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Katja Bruisch
Paola Messana: Soviet Communal Living. An Oral History of the Kommunalka. Palgrave Macmillan: Houndmills, Basingstoke 2011. XVI, 168 S. = Palgrave Studies in Oral History. ISBN: 978-0-230-11016-8.
Sandra Evans: Sowjetisch Wohnen. Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka. Transcript: Bielefeld, 2011. 318 S. = Lettre. ISBN: 978-3-8376-1662-0.
Die Kommunalka, in der zahlreiche Sowjetbürger ihr Privatleben in Gegenwart ihnen vielfach völlig fremder Personen organisierten, gilt als Sinnbild sowjetischer Alltagserfahrung: Ähnlich wie die Warteschlange verkörperte das über Jahrzehnte bestehende Provisorium der Kommunalwohnung den Widerspruch zwischen offizieller Rhetorik und sozialer Realität. Nachdem die Kommunalka bereits wiederholt Gegenstand mikro- und alltagshistorischer Studien gewesen ist, wenden sich nun zwei Publikationen der narrativen Verarbeitung der Kommunalka zu. Paola Messana hat 30 autobiographische Interviews, die sie nach dem Ende der Sowjetunion mit ehemaligen Bewohnern von Kommunalwohnungen geführt hat, zu einer Oral History der Kommunalka zusammengestellt. Susan Evans untersucht in ihrer Dissertationsschrift die Repräsentation der Kommunalka in der satirischen und grotesken Literatur der frühen Sowjetunion.
Messanas Band bietet einen Längsschnitt durch die gesamte sowjetische Geschichte der Kommunalka. Einige Erinnerungen reichen bis in die Anfangszeit der sowjetischen Herrschaft zurück, als die Bol’ševiki durch die „Verdichtung“ des Wohnraums (uplotnenie) versuchten, dem Problem des Wohnraummangels zu begegnen und den sozialen Raum der Städte neu zu ordnen. In zwei Interviews wird abschließend das Fortbestehen von Kommunalwohnungen im postsowjetischen Russland thematisiert. Obwohl die versammelten Interviews, abgesehen von einigen erklärenden Anmerkungen, unkommentiert bleiben, liefert der Band ein faszinierendes Porträt des sowjetischen Alltags. Die Erzählungen illustrieren, wie heterogen die sowjetische Gesellschaft ungeachtet aller Gleichheitspostulate war und in welchem Maße individuelle Alltagserfahrungen voneinander abweichen konnten. So wurde die soziale Herkunft oder die Stellung, welche eine Person im gesellschaftlichen Gefüge der Sowjetunion innehatte, häufig auch auf der Ebene der Kommunalwohnungen sichtbar. Vertreter des vorrevolutionären Adels bewahrten in ihren Zimmern alte Möbelstücke, Porzellan oder Silberlöffel auf oder pflegten Traditionen gelehrter Alltagsgestaltung, während Parteimitglieder mitunter bei der Zimmervergabe privilegiert wurden. Die Tochter eines Bolschewiken erinnert sich, dass ihre Familie in der Kommunalka während der 1920er Jahre nicht nur über zwei Zimmer, sondern auch über ein eigenes Dienstmädchen verfügte. Von einer homogenen Kommunalkaerfahrung, so der Eindruck nach der Lektüre, kann keine Rede sein. Die Palette der Erinnerungen reicht von nostalgisch verklärten Neujahrs- oder Osterfesten, über die teils komischen, teils tragischen Schwierigkeiten bei der Organisation des täglichen Zusammenlebens bis hin zu Fällen von Bespitzelung und Denunziation. Das paradoxe Nebeneinander von Nähe und Anonymität ist ein wiederkehrender Topos in den Interviews. Obwohl die Bewohner einer Kommunalka häufig über das Hygieneverhalten oder die Sexualgewohnheiten ihrer Wohnungsgenossen im Bilde waren, konnte es geschehen, dass sie den Tod eines Mitbewohners in seinem Zimmer über Tage nicht bemerkten.
Sandra Evans analysiert in ihrer „Kultur- und Literaturgeschichte der Kommunalka“ Texte von Michail Bulgakov, Daniil Charms und Michail Zoščenko. Anhand zweier Romane von Boris Jampol’skij und Vjačeslav P’ecuch befasst sie sich außerdem mit dem Bild der Kommunalka in der spätsowjetischen Belletristik. Als analytischer Schlüssel zu den Texten dient ihr das von dem Religionsethnologen Victor Turner geprägte Konzept der Liminalität: eines Schwellenzustands, in dem menschliche Gemeinschaften nach einer Erschütterung der sozialen Ordnung ihr Zusammenleben neu organisieren. Nach Evans entwarfen die Literaten die Kommunalka als einen „liminalen Raum“. Als „Zone des Übergangs“ versinnbildlicht sie die allgemeine Verunsicherung, in der sich die sowjetische Gesellschaft in der Frühphase der bolschewistischen Herrschaft befand. Das Aufeinandertreffen von Vergangenem und Gegenwärtigem, Privatem und Öffentlichem, Eigenem und Fremdem schuf in den Kommunalwohnungen einen Zustand der Uneindeutigkeit, in dem ihre Bewohner eigene Rituale etablierten, um das Fehlen verbindlicher Strukturen zu kompensieren. Evans identifiziert vier Themenkomplexe, anhand derer die Literaten den Übergangscharakter der sowjetischen Gesellschaft in ihren Kommunalkadarstellungen sichtbar machten: die Neukodierung von Raum und Zeit infolge der Reorganisation des Wohnalltags, die Versuche zur Herstellung von Ordnung in einer durch die Revolution irritierten Gesellschaft, das Interagieren innerhalb der Wohngemeinschaft („solidarischer Eigen-Sinn“) sowie das komplexe Spannungsverhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit. Sie verfolgt, wie die Helden der Texte ihren beengten Wohnraum und die Beziehungen zu ihren Mitbewohnern gestalten und mit „kultureller Kreativität“ (S. 101) staatlich festgelegte Regeln umgehen oder bewusst verletzen. In ihrer Analyse arbeitet Evans die Motive heraus, mit denen die Autoren die Liminalitätserfahrung der sowjetischen Gesellschaft und deren Ausprägung auf der Ebene der Kommunalwohnungen zum Ausdruck brachten: Träume und Zeitreisen waren beliebte Mittel, um die individuelle und kollektive Irritation sowjetischer Bürger in den Jahren nach der Revolution literarisch zu thematisieren.
Während Evans’ Rückgriff auf das Konzept der Liminalität unmittelbar einleuchtet, wirft ihre Methode zumindest aus der Perspektive des Historikers einige Fragen auf. Zwar erwähnt die Autorin einleitend, sie betrachte Literatur „weder als rein ästhetisches Phänomen noch als historische Quelle, sondern als Gegenstand kultureller Selbstwahrnehmung und -thematisierung“ (S. 14A). Problematisch ist jedoch, dass Evans ihre Leser an vielen Stellen über die Beziehung zwischen literarischem Text und historischem Kontext im Unklaren lässt. Gegen das Anliegen, die Texte als einen Zugang zur sowjetischen Kommunalkaerfahrung zu lesen, lässt sich grundsätzlich nichts einwenden. Sicher sind die literarischen Darstellungen Repräsentation der kommunalen Lebenswelt, und sicher bilden sie Handlungs- und Wahrnehmungsmuster der Zeitgenossen mitunter ausgesprochen prononciert ab. In Evans’ Analyse fehlt jedoch eine Auseinandersetzung damit, dass man es bei den von ihr untersuchten Autoren mit einem kleinen Segment der sowjetischen Bevölkerung zu tun hat, deren Wahrnehmungen nicht notwendigerweise mit denen ihrer Zeitgenossen zusammenfallen mussten. Evans’ Anspruch, die „mentale Kultur der sowjetischen Gesellschaft“ und den „Gesamtkomplex kollektiver Sinnkonstruktionen zu rekonstruieren“ (S. 14), ist daher eigentlich von vorneherein nicht einlösbar. Unbeantwortet bleibt auch Evans’ einleitend gestellte Frage, „inwiefern […] literarische und außerliterarische Faktoren einander [bestimmen]“ (S. 20). Selbst wenn man annimmt, dass die literarische Darstellung der Kommunalka auf die außerliterarische Realität zurückwirkte (eine Hypothese, die Evans nicht erörtert), ist dies ein rezeptionsgeschichtliches Problem, das sich mit literarischen Quellen allein natürlich gar nicht untersuchen lässt.
Neben diesen Unklarheiten erstaunt auch das ausgesprochen pauschale Bild von der sowjetischen Gesellschaft, welches Evans in ihrer Analyse zeichnet. Hinter der Beschreibung der Kommunalka als „höchst politisierte[r] Wohnraum“ (S. 163), in dem sich die „Allgegenwärtigkeit des sowjetischen Regimes“ (S. 226) zeigte, steht ein sehr unspezifischer Begriff des Politischen. Natürlich war die Kommunalka, die von den Bol’ševiki manchmal als Teil des Programms zur Umgestaltung des byt dargestellt wurde, ein Produkt sowjetischer Politik. Es verwundert jedoch, dass die Autorin aus diesem Grunde Konflikte des alltäglichen Zusammenlebens fast automatisch als politische Konflikte wertet: Warum sie Handlungen (und dies gilt für literarische wie für ‚reale‘ Handlungen gleichermaßen), die auf eine Ausweitung des persönlichen Handlungsspielraums innerhalb einer Kommunalwohnung zielten, als „politische Bestrebungen“ (S. 162) deutet, erschließt sich nicht. Dass der Rahmen, in dem die Bewohner der Kommunalwohnungen ihre Konflikte austrugen, ein sowjetischer war, musste schließlich nicht bedeuten, dass die Konflikte in den Kommunalki Auseinandersetzungen mit deren sowjetischer Bedingtheit darstellten. Irritierend ist darüber hinaus, dass Evans die Kommunalka als „totalen Raum“ (S. 14) bzw. „totales System“ (S. 120) beschreibt. Diese Kategorisierung versperrt nicht nur den Blick darauf, dass sowohl die Kommunalkaerfahrung selbst als auch ihre narrative Verarbeitung ausgesprochen heterogen sein konnte. Da Evans in ihrer Analyse selbst zu dem Schluss kommt, dass die literarischen Helden als „autonom handelnde Subjekte“ auftreten, lässt sich nur schwer nachvollziehen, warum sie das Konzept der Totalität und die implizite Idee des Kontrollverlusts so prominent macht.
Dass die narrative Aneignung der Kommunalkaerfahrung einen interessanten Zugang zur Geschichte des sowjetischen Alltags darstellt, lassen beide Bücher erkennen. Die Auseinandersetzung mit der Binnenperspektive der Akteure zeigt allerdings auch, dass sich die Leerstellen der Forschung wahrscheinlich nur mit anderen Methoden beseitigen lassen. Fragen danach, wie der Staat, abgesehen vom Parteifunktionär im Nachbarzimmer und dem KGB-Agenten mit Haftbefehl, in der Kommunalka in Erscheinung trat, wie die zahllosen staatlichen Richtlinien zur Regulierung des Kommunalka-Alltags umgesetzt wurden und wie rechtsprechende Instanzen damit umgingen, wenn Mietparteien ihre alltäglichen Konflikte nicht lösen konnten, sind noch offen. Beide Bücher und die bereits vorliegenden mikrohistorischen Arbeiten liefern hier zwar einige Anhaltspunkte. Gerade für die Nachkriegsjahrzehnte besteht jedoch ein Desiderat. Es bleibt daher zu hoffen, dass sich der gegenwärtige Trend, die Kommunikation zwischen sowjetischen Machthabern und der breiten Bevölkerung zu untersuchen, auch in der Beschäftigung mit dem sowjetischen Wohnalltag fortsetzen wird.
Zitierweise: Katja Bruisch über: Paola Messana: Soviet Communal Living. An Oral History of the Kommunalka. Palgrave Macmillan: Houndmills, Basingstoke 2011. XVI, 168 S. = Palgrave Studies in Oral History. ISBN: 978-0-230-11016-8.Sandra Evans: Sowjetisch Wohnen. Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka. Transcript: Bielefeld, 2011. 318 S. = Lettre. ISBN: 978-3-8376-1662-0., http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Bruisch_SR_Leben_in_der_Kommunalka.html (Datum des Seitenbesuchs)
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