Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jana Bürgers

 

Wolfgang Mende: Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2009. 644 S., 75 Notenbsp., Tab. ISBN: 978-3-412-20424-2.

Die Kunst als unmittelbares und bewußtes, planmäßig eingesetztes Werkzeug der Lebensgestaltungdas ist die Formel der proletarischen Kunst.

 

Dieses Zitat von Boris Arvatov, einem Theoretiker des Proletkult und derLinken Front der Künstevon 1926 stellt Wolfgang Mende ganz an den Anfang seinerwohlgemerkt musikwissenschaftlichen! Dissertationsschrift. Es signalisiert damit bereits den Kontext, in den der Autor seine Betrachtung der Musik stellt. So hat er es sich nämlich zur Aufgabe gemacht, Stellung und Rolle der Musik innerhalb desschillernde[n] Phänomen[s]“ ‚Revolutionskultur‘ (S. 11) genauer zu beleuchten, und nicht nur die Musik isoliert zu betrachten. Den Hintergrund dafür liefert dieLinke Front der Künste(LEF),eine heterogene, ein breites Spektrum an Kunstformen umfassende Bewegung(S. 12), die, wie obiges Zitat ausführt, Kunst zum Werkzeug machen wollte. Mendes Ausgangsfrage lautet folglich:Hatte dieLinke Front der Künste‘ einen musikalischen Flügel?

Die ganz kurze Antwort lautet:Nein. Warum dem so war und wieso die Musik eine Sonderrolle spielte, legt Mende auf den nächsten gut 500 Seiten dar.

Dafür muss er ganz schön weit ausholen, und so behandelt der erste Teil seiner Studie erst einmal die frühen Vorläufer, nämlich den Weg vom italienischen zum russischen Futurismus. In einem langen zweiten Teil schildert MendeDie Entwicklung der linken Kunst bis 1930und stellt die Menge an Konzepten, Diskursen und Persönlichkeiten vor, diefür die sowjetische Revolutionskultur der 1920er Jahre offensichtlich konstitutiv war(S. 32).

Da geht es um das Verhältnis von linker und proletarischer Kunst, die zumindest den sozialen Auftrag gemeinsam hatten, um die wissenschaftliche Organisation der Arbeit, den Konstruktivismus, der in der Kunst ein Mittel zur ingenieuristischen Organisation der Lebenswelt sieht und um die Faktographie als bewusstseinsaktivierende Montage.

Der dritte und bei weitem ausführlichste Teil widmet sich endlich der Musik. Doch auch dieser behandelt zunächst noch nicht die Musik selbst, sondernMusikkonzepte aus dem Umfeld des LEF, zumeist solche von Nichtmusikern. Bereits hier wird deutlich, dass Musik von diesem Kreis nur als Werkzeug für andere Kunstgattungen, v.a. Theater und Film, wahrgenommen wurde, nicht jedoch als eigenständige Kunstgattung. In mühsamer Kleinarbeit extrahiert Mende aus Zeitschriftenartikeln, Debatten und Konferenzprotokollen Stellungnahmen zur Musik, um immer wieder festzustellen, dass die avancierte Kunstmusik der Zeit in den dortigen Diskussionen eine marginale Rolle spielte.

Gründe dafür sieht Mende zum Beispiel darin, dass die klassische Kunstmusik zu stark in Traditionen verhaftet war und sich folglich nicht zur Agitation eignete. Viele Komponisten wollten ihre künstlerische Autonomie nicht zugunsten utilitaristischer Konzepte aufgeben, und umgekehrt interessierten sich die linken Künstler nicht für die zeitgenössische Kunstmusik, sondern bevorzugten Werke der Klassischen Moderne oder Jazz. Wirklich avantgardistische (im Sinne Peter Bürgers: Negation derInstitution Kunst‘ und deren Auflösung inLebenspraxis‘, S. 43) Musikversuche hingegen (wie z.B. Phonochronik, synthetische Musik) fanden weder in Fachkreisen noch bei der breiten Masse Anklang. In Proletkult-Kreisen wurde zwar vom industriell-experimentellen Flügel auf neuen Gebieten (Technizismus) geforscht, auf die Kompositionsarbeit hatte das aber wenig konkrete Auswirkungen. Auch berühmte Beispiele wie die Dampfpfeifensinfonie von Avraamov, Radlovs Monumentalinszenierungen oder andere Versuche, diemusikalische Materialbasiszu revolutionieren blieben singulär.

Bevor der Autor sich zum Schluss drei herausragende Künstlerpersönlichkeiten (N. Roslavec, V. Deševov und A. Mosolov) mit ihren Hauptwerken in detaillierter Analyse (inkl. zahlreicher Notenbeispiele) vornimmt, widmet er sich derPublizistik des ASM-Kreises. DieAssoziation für zeitgenössische Musik, so sein Fazitwar ein apolitischer Interessenverband, ohne einheitliche Programmatik, aber durchaus erfolgreich bei der Publizierung (Konzerte, Notenausgaben, Vorträge) zeitgenössischer Musik. Mit Avantgarde hatte sie allerdings nichts zu tun.

Wie so viele Dissertationsschriften leidet auch diese an der Fülle des Materials und der Akribie seiner Bearbeitung. Hinzu kommt die Schwierigkeit des interdisziplinären Ansatzes. Für den eher kulturgeschichtlich interessierten Teil der Leserschaft sind die vielenim übrigen hervorragendenMusikanalysen auf die Dauer ermüdend und sie verstellen den Blick aufs Ganze; für eher musikalisch Ausgerichtete mag die Behandlung der vielen Theorien anstrengend sein.

Häufig muss Mende auf andere Kapitel vor- oder zurückweisen, wo Konzepte oder Kompositionen näher behandelt werden, so dass bestimmte Figuren oder Ideen an verschiedenen Stellen in unterschiedlichen Kontexten auftauchen, was manchmal nicht zuletzt angesichts der Materialfülle leicht verwirrend wirken kann.

Andererseits ermöglicht wohl nur diese mosaikartige Verflechtung bei gleichzeitiger Tiefenanalyse beispielhafter Texte, Soundtracks und Musikstücke die Gesamtsicht und Einordnung, die Mende in seinem ehrgeizigen Vorhaben, Kunst und Musik vor dem Hintergrund der Revolutionskultur zu untersuchen, anstrebt und was ihm im Großen und Ganzen auch gelungen ist. Etwas mehr Zwischenresümees oder sonstige bündelnde Abschnitte hätten dem Buch nicht geschadet. Was wirklich fehlt, ist eine multimediale DVD mit den behandelten Ton-, Film- und Theaterbeispielen, denn auch wenn die Musik in der linken Kunst nicht die erste Geige gespielt hat, so hat sie durchaus ihren (klangvollen) Teil zur Revolutionskultur beigetragen.

Jana Bürgers, Offenburg

Zitierweise: Jana Bürgers über: Wolfgang Mende: Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2009. 644 S., 75 Notenbsp., Tab. ISBN: 978-3-412-20424-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Buergers_Mende_Musik_und_Kunst.html (Datum des Seitenbesuchs)

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