Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Sandra Evans

 

Die rote Traumfabrik. Meschrabpom-Film und Prometheus 19211936. Hrsg. von Günter Agde / Alexander Schwarz. Berlin: Bertz und Fischer, 2012. 264 S., 223 Abb. ISBN: 978-3-86505-214-8.

Inhaltsverzeichnis:

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Nicht viel ist über den Entstehungskontext russischer Klassiker der Filmgeschichte wie z.B. Aėlita (Aelita, 1924) von Protazanov, Mat (Die Mutter, 1926) und Konec Sankt-Peterburga (Das Ende von St. Petersburg, 1927) von Pudovkin sowie Dom na Trubnoj (Das Haus in der Trubnaja-Straße, 1928) von Barnet bekannt, obwohl russische Filmschaffende das Medium Film von dessen Anfängen an entscheidend und nachdrücklich prägten. Hierzu zählen z. B. Kulešov mit seinem Effekt, Dziga Vertov mit seinen ästhetischen Konzepten und allen voran natürlich Sergej Ėjzenštejn, dessen Konzept der Montage der Attraktionen die Montagetechnik bis heute maßgeblich beeinflusst hat.

Im Rahmen der Berlinale 2012 Retrospektive sollte diese Lücke der Filmgeschichte geschlossen werden, mit besonderem Blick auf deutsch-(sowjet-)russische Beziehungen. Hinter den filmischen Kulissen der oben genannten Filme verbirgt sich nämlich eine einzigartige deutsch-russische Unternehmung oder das erste Joint-Venture, wie es Jeka­te­rina Chochlowa nennt: die Meschrabpom Produktionsgesellschaft, die in Moskau etabliert wurde und in Berlin ihren Sitz hatte. Das Deutsche Historische Institut in Moskau hat hierzu im März 2011 in Kooperation mit der Deutschen Kinemathek Berlin eine Konferenz durchgeführt, aus der der Sammelband Die rote Traumfabrik. Meschrabpom-Film und Prometheus 1921–1936 mit Beiträgen von Historikern, Filmwissenschaftlern und Experten des Staatlichen Archivs für Kinofotodokumente in Krasnogorsk und dem Moskauer Filmmuseum hervorging. Zudem entstand eine gleichnamige Filmausstellung und -reihe (Mezhrabpom: The Red Dream Factory) im Museum of Modern Art (MoMA) in New York (April 2012).

In den Fokus genommen werden nicht nur der soziokulturelle, ökonomische und politische Austausch und die Kooperation beider Länder, sondern auch die treibenden Personen und die gegenseitigen ästhetischen Einflüsse. Die jeweiligen Beiträge sind knapp gehalten, qualitativ alle auf hohem Niveau. Zusammen mit Bild-, Poster- und Filmmaterial aus dieser Zeit gewähren sie einen einzigartigen Einblick in den Kontext des Filmemachens der zwanziger und dreißiger Jahre und zeigen gesellschaftliche wie internationale Zusammenhänge auf.

Es wird eine große Bandbreite an Themen und Perspektiven geboten, die lediglich angerissen und nicht vertieft werden, was für den Zweck dieses Buches vollkommen ausreichend ist. Ein kleiner Kritikpunkt wäre dennoch, dass man sich als Leser eine Einordnung oder (thematische, chronologische, etc.) Sortierung der 13 Essays wünscht. Die Titel sind nämlich nicht immer hilfreich. Wie jede Kunst reflektiert der Film wechselnde Zusammenhänge, was eine strikte Sortierung erschwert. Die Essays lassen sich grob in zwei Kategorien sehen: 1. Blick auf die wirtschaftlichen und technischen Grundlagen des Mediums, d. h. auf die Infrastruktur und 2. Analyse wichtiger politischer, soziokultureller und ästhetischer Aspekte der Kunst, d. h. ihrer Struktur.

Was die Infrastruktur anbelangt, so schildert Alexander Schwarz in Von der Hungerhilfe zum roten Medienkonzern, wie es zu dem Namen Meschrabpom kam: die Abkürzung bedeutet übersetzt Internationale Arbeiterhilfe (IAH), die als Hilfe für Hungernde an der Volga gedacht war. Aus von Willi Münzberg vorangetriebenem filmischen und propagandistischen Dokumentationsmaterial bzw. Hungerhilfe-Filmen entwickelten sich wirtschaftliche Beziehungen, die von „zollbefreite[m] bilaterale[n] Filmhandel bis zum russlandweiten Rohfilmgeschäft, von proletarischer deutscher Filmproduktion bis zum weltweiten Verleihnetz“ reichten. Der nächste Essay von Aleksandr Derjabin behandelt den leidenschaftlichen Einsatz des russischen Filmproduzenten Moisej Alejnikov für seine Meschrabpom-Firma. Wolfgang Mühl-Benninghaus schreibt Zur Geschichte von Prometheus-Film GmbH und Film-Kartell Weltfilm: Produktion, Verleih, Finanzierungen und richtet somit den Blick auf Deutschland und auch auf deutsche Spielfilme. Mit den nächsten drei Beiträgen rücken technische Neuerungen und deren Einfluss auf das „Image einer innovativen und attraktiven Produktionsfirma“ (S. 101) in den Fokus. Valérie Pozner beschreibt Die Einführung des Tonfilms bei Meschrabpom-Film und Wiktor Beljakow erläutert in seinem Essay Auftrag und Risiko: Farbe im Film die Einführung des Farbfilms. Er beschreibt auch, wie die in den sowjetischen Strukturen begünstigte Lage von Meschrabpom ein gewisses Maß an selbstständiger und innovativer Arbeit erlaubte. Ralf Forster widmet sich der Animationsfilmgeschichte und siedelt die Animationsfilme der Meschrabpom qualitativ auf internationalem Niveau an.

In der zweiten thematischen Kategorie, der der Struktur, also der soziokulturellen, politischen wie auch ästhetischen Aspekte des Films, ließe sich Rainer Rothers Beitrag zur Rezeption sowjetischer Filme in der Weimarer Republik einordnen. Während die künstlerisch sehr anspruchsvollen Filme aus dieser Werkstatt das internationale Publikum faszinierten und avantgardistische Filmemacher in Europa inspirierten, wurden auch Filme gedreht, die ihren Schwerpunkt auf Themen des Alltags legten und einen fast ethnologischen Blick auf Russland erlaubten. Jekaterina Chochlowa konzentriert sich in ihrem Beitrag Das Studio der Meister: Filme und Schicksale auf die Personen, die maßgeblich an der Gründung von Meschrabpom beteiligt waren (Moisej Alejnikov, Fedor Ozep und Jurij Šeljabušskij) und die Rolle des Künstlerkollektivs RUS. Im nächsten eher filmästhetischen Beitrag Im Widerstreit der Bilder. Utopien und Topoi präsentiert Günter Agde das „ikonographische Geflecht der Zeit“ wie auch die prägenden Bildwelten, die in dieser „revolutionären“ Zeit entstanden. Was die Filme des Meschrabpom-Studios im Vergleich zur Ufa und zu internationalen Filmen auszeichnet, war der Dokumentarfilm und die darin enthaltene politische und sozialistische Propaganda, ein Thema das Alexander Schwarz in seinem Essay Von Glühbirnen und Gletschern, Kombinaten und Kaffeesklaven: Ein Überblick über die Dokumentarfilm-Produktion ausführt. Eine weitere Gattung, die in dieser Zeit besonders für Russland spezifisch war, ist der Kulturfilm. In einer Zeit, in der die Künste zweckmäßig politisiert wurden, diente der Kulturfilm der Volksaufklärung und der (Um-)Erziehung der Gesellschaft, worauf Barbara Wurm in ihrem Essay eingeht. In einem weiteren Essay widmen sich Alexander Schwarz, Valérie Pozner und Thomas Tode den Aktivitäten in den USA, in Frankreich und in Österreich.

Der Band ist sowohl für Wissenschaftler wie auch für den allgemein Film- und Geschichtsinteressierten wertvoll: Für den einen ist er eine thematische Fundgrube und ein Nachschlagewerk historischer Quellen (am Ende des Buches gibt es eine Filmographie der 574 von Meschrabpom produzierten Filme, die nach Entstehungsjahr und alphabetisch nach ihrem Originaltitel aufgelistet sind, dazu ein ausführliches Personenverzeichnis wichtiger Akteure, eine übersichtliche und vergleichende Chronik relevanter Ereignisse beider Länder und Kopien wichtiger Materialien und Leitdokumente für die Gründung und Entwicklung dieses besonderen binationalen Zusammenschlusses aus den Moskauer Archiven). Für andere stellt das Buch eine wissenschaftlich begleitete Zeitreise in einen unbekannten Raum der Filmgeschichte dar.

Sandra Evans, Tübingen

Zitierweise: Sandra Evans über: Die rote Traumfabrik. Meschrabpom-Film und Prometheus 1921–1936. Hrsg. von Günter Agde / Alexander Schwarz. Berlin: Bertz und Fischer, 2012. 264 S., 223 Abb. ISBN: 978-3-86505-214-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Evans_Agde_Die_rote_Traumfabrik.html (Datum des Seitenbesuchs)

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