Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: David Feest

 

Tracy Dennison: The Institutional Framework of Russian Serfdom. New York: Cambridge University Press, 2011. 254 S. = Cambridge Studies in Economic History. ISBN: 978-0-521-19448-8.

Die grundsätzliche Andersartigkeit der russischen von der westeuropäischen Entwicklung ist vielfach behauptet und in unterschiedlichster Weise begründet worden. Waren für die einen die spezifischen geographischen Gegebenheiten des Imperiums dafür verantwortlich, dass die russischen Bauern jegliches Risiko vermieden und dafür kollektivistische Arrangements bevorzugten, gingen andere von einer besonderen russischen Mentalität aus, welche die Gruppe vor das Individuum, die Solidarität vor das Gewinnstreben gestellt habe.

Diese Vorstellung, so bemerkt Tracy Dennison in ihrer Fallstudie über die Bedingungen der Leibeigenschaft in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, hat eine lange Karriere hinter sich. Ihrer Meinung nach reicht sie nicht nur von Haxthausen bis Čajanov, sondern sie lebt in einer anderen, globaleren Form bis heute fort: in der „moral economy“-Schule James C. Scotts nämlich, nach der eine Profitmaximierung mit den kulturellen Normen der Bauern inkompatibel sei. Angesichts der steigenden Dominanz kulturwissenschaftlicher Deutungsansätze auch bei der Betrachtung der russischen Bauern hat Dennisons Monographie etwas von einer Gegendarstellung. Der „Haxthausen-Čajanov“-Theorie, die ihrer Meinung nach mehr auf einem „Bauernmythos“ als auf empirischen Studien beruht, setzt sie einen Faktor entgegen, dessen Bedeutung gerade in Bezug auf die russische Landbevölkerung häufig als gering eingeschätzt worden sind: die institutionellen Arrangements, die ihr von außen auferlegt wurden. Darin folgt sie insbesondere neueren wirtschaftswissenschaftlichen Ansätzen, welche Institutionen wieder eine größere Rolle zuschreiben.

Bei alledem ist Dennisons Buch weniger eine provokative Streitschrift, als vielmehr eine eindrucksvolle empirische Grundlagenstudie, die sich in vieler Hinsicht von bisherigen ähnlichen Untersuchungen unterscheidet. Offensiv hat sie ein Fallbeispiel ausgewählt, das dazu angetan ist, einen neuen Blick auf die Bedingungen der Leibeigenschaft zu werfen. Während die Pionierstudien von Hoch und Czap Gutshöfe im agrarischen Schwarzerdegebiet untersuchten, liegt der von ihr erforschte Gutshof Voščažnikovo (Gouvernement Jaroslavl’) im zentralen Industriegebiet Russlands. Auf diese Weise geraten nun Bauern in den Blick, für die Handel eine andere Rolle spielte als für reine Agrarproduzenten. Außerdem befand sich der von Dennison untersuchte Gutshof im Besitz der Familie Šeremetev, nicht der Gagarin-Familie wie bei den von Hoch und Czap erforschten Gutshöfen, was den Gutsherrn und das von ihm eingeführte System als unterscheidenden Faktor in den Fokus rückt. Dennison geht es dabei keineswegs nur darum zu zeigen, wie weit unter diesen spezifischen Bedingungen die Praktiken und Wirkungskreise der Leibeigenen über das hinausgingen, was auf der Grundlage des „Bauernmythos“ anzunehmen war. Im Gegenteil möchte sie verdeutlichen, wo sie in den institutionellen Rahmenbedingungen der Leibeigenschaft ihre Grenzen fanden.

In ihrer Fallstudie schafft es die Verfasserin durch die Verwendung einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen, ein sehr dichtes Bild der Gutswirtschaft zu entfalten: Sie hat Haushalts-Inventarlisten, Seelenrevisionen, Kirchspielregister, Gemeindebeschlüsse, Petitionen, gutsherrschaftliche Instruktionen, Bilanzbücher sowie Korrespondenzen zwischen unterschiedlichen Zweigen der Gutswirtschaft und mit staatlichen Stellen ausgewertet und interpretiert sie mit hohem Reflektionsgrad. Dabei entsteht der Eindruck einer hochgradig bürokratisierten Gutswirtschaft, die am Ort von einem Haushofmeister (prikazščik) verwaltetet wurde, der wiederum in ständiger Verbindung zur Hauptverwaltung der Šeremetevs in St. Petersburg stand.

Auch in die Binnenstruktur der Gemeinden und Höfe liefert die Studie Einsichten, die nur wenig mit den landläufigen Darstellungen des russischen Bauerntums gemein haben: Die bäuerlichen Haushalte waren in der Regel kleiner als in anderen Gegenden Russlands und der Anteil an Einfamilienhaushalten unter ihnen überdurchschnittlich groß. Die erweiterte Familie war offenbar auf dem Rückzug und die Wirtschaften waren kaum Familienbetriebe im Čajanovschen Sinne. Viele Höfe beschäftigten Knechte, Tagelöhner oder auch Hausbedienstete; es gab sogar Leibeigene, die selbst Leibeigene besaßen. Gleichzeitig schickten reichere Familien ihre Söhne fort, damit sie als Bedienstete bei Kaufleuten ein besseres Auskommen finden konnten. Regionale und lokale Arbeitsmärkte standen in verschiedenen Teilen der zentralen Industrieregion zur Verfügung, aber auch darüber hinaus. Manche Leibeigene gelangten bis nach Helsinki, Riga oder Odessa.

Die Existenz eines Arbeitsmarktes unterminierte auch die Ratio der Bodenverteilung innerhalb der Gemeinden, die sich traditionell an der Größe (und damit dem Arbeitspotential) der einzelnen Familien orientierte. Da es andere Einkunftsmöglichkeiten gab, fehlte zudem der Grund, die Landumverteilung als Instrument von kollektiver Risikominimierung zu nutzen. Boden wurde vielmehr zu einem Handelsobjekt, und Leibeigene sahen, wie die Verfasserin überzeugend belegt, einen klarer Unterschied zwischen Gemeindeland und privatem Eigentum. Als Indikator für diese Trennung wertet die Verfasserin die Tatsache, dass Leibeigene ihren privaten Boden auch als Sicherheit bei Kreditgeschäften nutzten. In einem eigenen Kapitel gibt sie faszinierende Einblicke in die ökonomische Interaktion zwischen den Bauern. Sie zeigt nicht nur, wie weit die Fähigkeit zu langfristigen ökonomischen Kalkulationen entwickelt war, sondern auch, dass dafür ein relativ gut reglementierter Rahmen vorhanden war.

Der letzte Punkt ist entscheidend für die argumentative Stoßrichtung der gesamten Untersuchung. Während sich viele der genannten Phänomene im Sinne eines wirtschaftsgeographischen Ansatzes aus den besonderen Bedingungen der nichtagrarischen Region erklären ließen, gibt sich Dennison mit einem derartigen ‚geographischen Determinismus‘ nicht zufrieden. Viel wichtiger erscheint ihr die Frage, in welchem Rahmen die Leibeigenen langfristig an Boden-, Eigentums- und Kreditmärkten partizipieren konnten, obwohl sie als Leibeigene keinerlei unwiderruflichen Eigentumsrechte hatten. Die Antwort liegt für sie in den konkreten, durch die Gutsherren geschaffenen Institutionen. Dennison kann zeigen, dass Šeremetev seinen Leibeigenen die Möglichkeit gab, Geschäftstransaktionen wie Bodenkauf in seinem Namen zu erledigen, und dass er diese Geschäfte formal mit einer Vollmacht (doverennost’) bestätigte und damit auf alle weitergehenden Rechte auf den Eigentumstitel verzichtete. Fast wichtiger noch erscheint die Tatsache, dass diesen Rechten durch die Gutsverwaltung auch tatsächlich in regelgeleiteten Verfahren Geltung verschafft wurde, wie gerade an Konfliktfällen gezeigt werden kann. Die Leibeigenen Šeremetevs genossen eine verhältnismäßige Rechtssicherheit.

Diese Rechtssicherheit hatte freilich ihren Preis: Fast auf jeder Stufe dieses Prozesses waren Gebühren an die Gutsverwaltung fällig. Und bei allem Interesse der Šeremetevs an diesen Märkten, begrenzten sie sie so weit, wie es in ihrem eigenen wirtschaftlichen Interesse lag. Auch in andere Aspekte des bäuerlichen Lebens griffen sie ein: So versuchten sie, auch die demographische Komponente des Verhaltens der Leibeigenen zu regulieren; sie griffen in ihre wirtschaftliche Produktion ein oder sorgten sich um soziale Stabilität in den Gemeinden. Die vielfach romantisierte Bauerngemeinde, deren unterschiedlichen Tätigkeiten ein sehr instruktives Kapitel gewidmet ist, war unter diesen Umständen kaum eine Instanz des sozialen Ausgleichs. Während die Gutsherren versuchten, die Gemeinden ihren eigenen Vorstellungen dienstbar zu  machen, lag es durchaus auch im Interesse der reicheren Bauern, mit ihnen zu kooperieren und die angebotenen Verfahren zur Verbesserung ihrer eigenen Stellung in der Gemeinde zu nutzen. Die sozial Schwächeren waren meist die Verlierer dieser Kooperation. Zudem war der Rechtssicherheit eine klare Grenze gesetzt: Es gab keinen legalen Rahmen, der über den Gutshof hinaus Geltung gehabt hätte. Jenseits der Šeremetevschen Regelungen galten nicht einmal mehr außerlegale soziale Konventionen.

Dennisons erhebt nicht den Anspruch, mit ihrer Fallstudie ein repräsentatives Bild des russischen Bauern erarbeitet zu haben. Doch haben ihre Schlüsse durchaus allgemeinen Charakter. Ein Grundfehler der Reform von 1861, so bemerkt sie, sei das Versäumnis gewesen, ein einheitliches Verwaltungssystem zu schaffen, und sich stattdessen ganz im Sinne des „Bauernmythos“ auf eine nebulöse Vorstellung der Gemeinde zu stützen. Auch wenn dies gerade für Dennisons konkreten Untersuchungsgegenstand zweifellos zutrifft, so mag man bei dieser Verallgemeinerung doch sehr zögern. Denn auch wenn die Studie über Voščažnikovo überzeugend die Bedeutung institutioneller Arrangements aufzeigt, die Räume für die Ausbildung von neuen Wirtschaftsformen und modernen Vorstellungen von Eigentum schufen, entstanden letztere doch nicht automatisch aus ihnen. Auch dass unterhalb der Ebene der Gutsgemeinde durchaus andere Praktiken relevant blieben, wird angesprochen, aber nicht näher behandelt. Hier wäre ein Zusammenschluss eines institutionellen mit einem kulturellen Ansatz nützlich, der eben die Wechselwirkung von äußeren Arrangements und kulturellen Normen längerfristig in den Blick nimmt. Dass deren Entwicklung aber keineswegs in zwangsläufigen und unabänderlichen Bahnen verlief, das kann Dennison in ihrer vorzüglichen Studie eindrucksvoll zeigen.

David Feest, Göttingen

Zitierweise: David Feest über: Tracy Dennison: The Institutional Framework of Russian Serfdom. New York: Cambridge University Press, 2011. 254 S. = Cambridge Studies in Economic History. ISBN: 978-0-521-19448-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Feest_Dennison_Framework.html (Datum des Seitenbesuchs)

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