Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: David Feest

 

Carol S. Leonard: Agrarian Reform in Russia. The Road from Serfdom. Cambridge [usw.]: Cambridge University Press, 2011. 402 S., zahlr. Tab., Graph., Ktn. ISBN: 978-0-521-85849-6.

Carol S. Leonard hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: In ihrem neuen Buch unterzieht sie gleich alle wichtigen russischen Agrarreformen der letzten 150 Jahre einer vergleichenden wirtschaftshistorischen Analyse. Die Bandbreite ist gewaltig. Die Untersuchung beginnt mit den Reformen des Zarenreichs: der Aufhebung der Leibeigenschaft von 1861, in denen die Bauern persönliche Freiheit erhielten, und den Stolypinschen Reformen von 1906, die eine Stärkung des individuellen Bodenbesitz zum Ziel hatten. Für die Sowjetzeit behandelt sie die Neue Ökonomische Politik und die bald darauf folgende Kollektivierung der Landwirtschaft, Chruščevs Versuche, nach Stalins Tod den Agrarsektor wieder in Gang zu bekommen, die Bestrebungen Kosygins und Brežnevs, nach  Chruščevs Kampagnen wieder ein stabiles Wachstum zu erreichen, sowie Gorbačevs Bemühungen, die seit den siebziger Jahren herrschende Stagnation des Agrarmarktes aufzubrechen. Zuletzt werden die marktwirtschaftlichen Reformen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion behandelt.

Es versteht sich, dass die Unterschiede zwischen diesen Reformen immens sind: Manche Reformen hatten die Schaffung einer finanziellen Infrastruktur oder die Etablierung von Besitzrechten zum Ziel, während andere deren gewaltsame Beseitigung betrieben. Und während in einigen Fällen die soziale Stabilität als Ziel im Vordergrund stand, war in anderen Fällen der technologischen Fortschritt zentral. Außerdem wurden Reformen häufig zu größeren Umformungsprojekten gebündelt, die ihnen als Teil eines Ganzen einen eigenen Sinn verliehen: etwa die liberalen Reformen unter Alexander I. oder die sozialrevolutionäre Umgestaltung unter Stalin.

Doch gab es auch gemeinsame Faktoren: Meist waren die Reformen Folgen einer als krisenhaft wahrgenommene Situation, welche die staatlichen Akteure nicht selten zu interventionistischen Ansätzen veranlasste, die den Reformen einen kampagnenartigen Charakter verliehen und wirtschaftliche Anreizsysteme vernachlässigten. Die landwirtschaftliche Produktion war ihrerseits in solchen Situationen besonderen Risiken ausgesetzt, und die Bauern fühlten sich angehalten, auf traditionelle Institutionen der Selbstversicherung zurückzugreifen. Zudem konnten makroökonomische Schwankungen den Verlauf der meisten Agrarreformen gefährden. Auch die Auseinandersetzung mit den lokalen Eliten und der Kampf mit einer trägen Bürokratie waren mehreren Reformen gemein.

Gestützt auf eine Unzahl wissenschaftlicher Abhandlungen und statistischer Quellen, bemüht sich Leonard um ein differenziertes Bild russischer Agrarentwicklung, wobei ihr umfassende Kenntnisse aus den Wirtschaftswissenschaften, der Agrarsoziologie und der Geschichtsschreibung zugute kommen. Sie vermittelt einen Eindruck von den erheblichen Unterschieden, die allein aus der wirtschaftsgeographischen Diversität des Imperiums resultierten, und sensibilisiert immer wieder für die verschiedenartigen Kurz- und Langzeitfolgen der Reformen. Dabei verweigert sich die Darstellung einfachen Erklärungen. Dass die Bauern etwa nach der Befreiung an die Gemeinden gebunden und die Haushalte die zentrale Rechnungsgröße blieben, konnte sich als Hemmschuh der weiteren Entwicklung auswirken, doch erwies sich die Gemeinde keinesfalls immer als veränderungsresistent. Zwar blieb der Zugriff einzelner Bauern auf Bodenbesitz aufgrund der bis in 20. Jahrhundert hinein aufrechterhaltenen rechtlichen Sonderstellung der Bauern stark eingeschränkt. Statt ihrer fungierten aber nicht selten die Gemeinden als Akteure der Veränderung, kauften Boden und landwirtschaftliche Maschinen, dienten als Bürgen für Kredite und passten sich auch dem Bedarf der Industrie an. Auch Arbeitsmigration, die formal durch die Bindung der Bauern an die Gemeinden stark erschwert wurde, war schon lange, bevor sie durch die Stolypinschen Reformen offiziell erleichtert wurde, eine Realität. Ähnliches gilt für das individuelle Unternehmertum, das von politischer Seite im Zarenreich mehr gehemmt als gefördert wurde. Dennoch sieht Leonard zumindest in Zeitspannen günstiger Marktbedingungen eine positive Entwicklung. Als Indikatoren dienen ihr Angaben über Land, das Bauern über das ihnen nach der Aufhebung der Leibeigenschaft zugesprochene Anteilsland hinaus pachteten. Sie weisen auch deutliche Korrelationen zur Ausbreitung des Eisenbahnnetzes und zum Ausbau von Handelsrouten auf, die zur Entstehung wirtschaftlicher Komplementarität der nördlichen und südlichen Gegenden beitrugen und die Regionen in Produzenten und Konsumenten aufteilten. Darüber hinaus behauptet Leonard hier auch eine Verbindung dieses Unternehmertums mit der Verbreitung von biologischem Wissen und technischer Innovation unter den Bauern, das sich in höheren Ernteerträgen widerspiegelte. Deutliche Übereinstimmungen bestehen entsprechend auch zwischen Daten über die Industrialisierung und über die technischen Verbesserungen in der russischen Landwirtschaft, wo Leonard in Einklang mit den Ergebnissen Paul Gregorys ab 1891 eine grundsätzlich positive Entwicklung sieht.

Trotzdem gab es bis zu den stolypinschen Reformen keine Besitzsicherheit für Boden. Die Lokalverwaltung war schwach und die Regierung nicht in der Lage, die Folgen von Reformen zu kontrollieren. Möglichkeiten für eine sorgfältig ausgearbeitete, prozyklische und durch Anreize gesteuerte Politik wurden nicht genutzt, und in krisenhaften Ereignissen wie den Hungersnöten der frühen 1890er Jahre erwies sich die Regierung als unfähig, administrativ Abhilfe zu schaffen. Als der Oktoberumsturz von 1917 schließlich alle Besitztitel wieder in Frage stellte, zog sich die Landbevölkerung auf ihre Selbstgenügsamkeit und ihre traditionellen Absicherungsmechanismen zurück. Auch die Neue Ökonomische Politik schuf keinen institutionellen Rahmen für Bodenbesitz und Arbeitsmobilität. Die Bedeutung von Gewohnheitsrecht ist sogar noch nach der Zwangskollektivierung feststellbar. Mit immensen Investitionen in die Technisierung konnte die Sowjetmacht zwar bis 1940 die nach der Kollektivierung eingebrochenen Getreideerträge wiederherstellen, doch fehlte es an Initiative und Kenntnissen, während der kleine Fleck Privatboden, der jedem Haushalt zugestanden wurde, stetig an Bedeutung gewann. Auch Chruščev und Kosygin/Brežnev konnten mit phasenweisen Investitionsprogrammen keine dauerhafte positive Dynamik erzeugen; ebenso wenig gelang es Gorbačev, die normorientierte Produktion profitabel werden zu lassen. Universelle Eigentumsrechte wurden erst in den 1990er Jahren unter den denkbar ungünstigen Bedingungen von zusammenbrechenden Inputsektoren eingeführt, und die institutionelle und finanzielle Bevorzugung der korporativen Großbetriebe verhinderte eine Konsolidierung von Einzelhöfen. Diese fand, so Leonard, erst unter Putin und Medvedev statt. Auf Grundlage der Entwicklung seit 2000 schätzt Leonard die Zukunft der kleinen Höfe vorsichtig als positiv ein.

Während Leonard in großen Teilen des Buches unterschiedliche bereits vorhandene Befunde analysiert und teilweise überraschende Parallelen zwischen den unterschiedlichen Reformen aufzeigt, ist eine ambitionierte Teilstudie besonders bemerkenswert. In ihr versucht Leonard, die wirtschaftliche Entwicklung gleichsam auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, nämlich den der totalen Faktorproduktivität (TFP), deren Untersuchung in wirtschaftswissenschaftlichen Analysen derzeit besonders verbreitet ist. Grob gesagt, wird für ihre Ermittlung berechnet, in welchem Ausmaß sich das Wachstum der Produktion nicht mit dem gesteigerten Einsatz der Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital etc.) erklären lässt. Die TFP bezeichnet also eine unerklärte Restmenge, die aber mit guten Gründen dem technologischem Fortschritt, der verbesserten Arbeitsorganisation etc. zugeschrieben werden kann. Eine solche Vorgehensweise erlaubt einen konsistenten Vergleich über den gesamten Untersuchungszeitraum, fordert aber einen sehr reflektierten Umgang sowohl mit der Methode als auch mit dem verwendeten Zahlenmaterial. Leonard leistet dies auf eindrucksvolle Weise. Sie macht damit die Untersuchung zu einem Lehrstück wirtschaftshistorischer Analyse und unterzieht die Angaben über die einzelnen Faktoren einer kritischen Revision, wobei sie für die Zeit vor der Etablierung einer belastungsfähigen Agrarstatistik auf indirekte Indikatoren angewiesen ist (die Details sind in einem umfangreichen Anhang zusammengefasst). Der Erfolg gibt ihr Recht. Die aus der Untersuchung resultierenden Daten zeigen einen so klaren Trend, dass Leonard die Daten als „empfindlich, aber konsistent“ bezeichnet. Sie zeigen für das ausgehende Zarenreich ein jährliches Wachstum des TFP, das mit westeuropäischen Angaben vergleichbar ist und die Vermutung nahelegt, dass man hier wie dort von den gleichen Technologien und biologischen Innovationen profitierte. Die sowjetische Kollektivierungs- und Technisierungspolitik führte dagegen zwar längerfristig zu einer erhöhten Produktivität, aber eben kaum zu einem TFP-Wachstum, während das vielversprechende TFP-Wachstum der 1950er und 1960er Jahre aufgrund von zu geringen Anreizen nicht aufrechterhalten werden konnte. Die Analyse bietet auch Hinweise auf die bis zu diesem Punkt noch weitgehend offengebliebene Frage, ob die behandelten Reformen eigentlich signifikante Resultate zeitigten. Hier rechtfertigt sich der lange Untersuchungszeitraum der Studie, denn während Reformen wie die Bauernbefreiung, aber auch die Privatisierung in den 1990er Jahren zunächst hauptsächlich negative Folgen hatten, zeigten sie eine starke verspätete Wirkung. Ähnliches lässt sich, wenn auch im schwächerem Ausmaß, über die anderen Reformen sagen.

Insgesamt zeigen die Ergebnisse des Buches die Stärken einer auf lange Trends ausgerichteten wirtschaftshistorischen Herangehensweise. Sie führt allerdings auch dazu, dass eine Abwägung wirtschaftlicher und außerwirtschaftlicher Faktoren in Bezug auf die einzelnen Reformen weitgehend fehlt. Dies wäre gerade in Bezug auf die Kollektivierungspolitik angemessen gewesen, wo ökonomische und politische Ziele offensichtlich eine Symbiose eingingen. Hier erscheint die Beschränkung auf Ziele wie Technisierung und Produktionssteigerung etwas verkürzt. Auch wirkt die Organisation des Stoffes, trotz seiner Aufteilung in gleich fünf Gliederungsebenen, mitunter sprunghaft und inkonsequent. So werden wichtige Grundfragen zur Motivation für Agrarreformen wie etwa der Rückständigkeitsdiskurs erst in der Endzusammenfassung angesprochen, wo sich auch eine instruktive Beschreibung russischer Agrarinstitutionen befindet, die sicher in einem der einleitenden Kapitel besser aufgehoben gewesen wäre. In einzelnen Kapiteln kommt es zu Wiederholungen, aber auch zu Verkürzungen, die vom Leser einige Blätterarbeit fordern. Das ist zu bedauern, denn Leonard verfügt über einen reichen Schatz an Kenntnissen und Einsichten. Dieser Kritik ungeachtet hat sie ein wichtiges Buch geschrieben, das als kompakter und kondensierter Gesamtüberblick über 150 Jahre russischer Agrarentwicklung von unschätzbarem Wert ist.

David Feest, Lüneburg

Zitierweise: David Feest über: Carol S. Leonard: Agrarian Reform in Russia. The Road from Serfdom. Cambridge [usw.]: Cambridge University Press, 2011. 402 S., zahlr. Tab., Graph., Ktn. ISBN: 978-0-521-85849-6, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Feest_Leonard_Agrarian_Reform.html (Datum des Seitenbesuchs)

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