Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 8 (2018), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Klaus-Peter Friedrich
Zwischen Ungewissheit und Zuversicht. Kunst, Kultur und Alltag polnischer Displaced Persons in Deutschland 1945–1955. Begleitbuch zur Ausstellung. Hrsg. vom LWL-Industriemuseum und vom Westfälischen Landesmuseum für Industriekultur (Dietmar Osses). Essen: Klartext, 2016. 222 S., zahlr. Abb. ISBN: 978-3-8375-1686-9.
Inhaltsverzeichnis:
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Unter dem Nationalsozialismus wurden mehrere Millionen Menschen aus der eroberten und besetzten Zweiten Polnischen Republik als Zwangsarbeiter nach Deutschland gebracht. Dort mussten sie – ebenso wie polnische Lagerinsassen und hunderttausende einfache Kriegsgefangene – der Kriegswirtschaft ihrer Unterdrücker dienen.
Bei Kriegsende hielten sich etwa eine Million ethnisch polnische Zwangsarbeiter, Häftlinge und Kriegsgefangene im von den Westalliierten besetzten Teil Deutschlands auf. Der Großteil der Verschleppten kehrte – wenngleich zögerlich – in das von Krieg und Okkupation verwüstete und zunächst noch politisch umkämpfte Nachkriegspolen zurück. Viele von ihnen konnten oder wollten sich aber nicht wieder in die Heimat begeben. Sie bemühten sich um eine Ausreise ins Ausland. Fürs Erste mussten die von den Alliierten als displaced persons Bezeichneten meist in Lagern – DP Camps – in Sammelunterkünften leben. Dort bildeten sich – wie schon ansatzweise in den Lagern für kriegsgefangene polnische Offiziere – ein auf Selbstorganisation beruhendes geselliges Leben und beeindruckende kulturelle Aktivitäten heraus. Besonders ausgeprägt war diese Entwicklung in der britischen Besatzungszone. Großbritannien beherbergte seit 1940 die polnische Exilregierung, und deren Truppen nahmen 1945 an dem Einmarsch nach Norddeutschland teil.
Die Geschichte der polnischen displaced persons wurde bislang wenig beachtet. Eine Schau im Industriemuseum Zeche Hannover des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe hat 2016 gezeigt, dass sie in den Lagern trotz ungünstiger Bedingungen ein vielgestaltiges Kulturleben aufbauten. Dies schlägt sich auch in dem Ausstellungskatalog nieder, der sich nicht auf die Region Westfalen-Lippe beschränkt, sondern die westlichen Besatzungszonen insgesamt in den Blick nimmt. Das als „Zwischen Ungewissheit und Zuversicht“ schwankend eingeschätzte Geschehen in den Jahren 1945 bis 1955 wird hier erstmals auf breiter Grundlage thematisiert. Eingangs verortet Dietmar Osses die polnischen displaced persons in Deutschland „Zwischen allen Fronten“. Stanisław Budyn widmet sich der Seelsorge unter den polnischen DPs, während Jacek Barski sich mit Bedeutung und Funktion der Kultur für die polnischen displaced persons in Deutschland befasst. Bartholomäus Fujak beschreibt das von musikalischen und Theaterprojekten bereicherte Dasein der Polen in den DP-Lagern. Zur gleichen Zeit war für die große Zahl der Jüngeren in Schule, Ausbildung und Beruf der „Blick nach vorn gerichtet“, wie David Skrabania deutlich macht. Einen kundigen Gesamtüberblick über die Lage der polnischen displaced persons in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands und der frühen Bundesrepublik bietet sodann Krzysztof Ruchniewicz; demzufolge waren die im Nationalsozialismus Unterdrückten nun zwar „befreit, aber nicht in Freiheit“. Dieser in der Mitte des Katalogs platzierte Beitrag ist als Einführung zu empfehlen und sollte daher zu Beginn gelesen werden.
Eine Fülle von Informationen ist darüber hinaus den sich anschließenden kurzen Erläuterungen über ausgewählte Exponate zu entnehmen, die Jacek Barski, Axel Feuss, Bartholomäus Fujak, Wacław Lewandowski, Dietmar Osses und David Skrabania verfasst haben. Hier ist etwa zu erfahren, dass Briten und Amerikaner mehrere zehntausend Polen nach Kriegsende zu Wachsoldaten machten (S. 130–131). Die polnische Pfadfinderbewegung hatte eine eigene, in Celle herausgegebene Zeitschrift, die Ende 1945 ihre Titelseite mit einem neuen, vom Heimweh nach Warschau geprägten Gedicht des populären linken Schriftstellers Władysław Broniewski (1897–1962) aufmachte, der nach jahrelanger kriegsbedingter Odyssee in die Heimat zurückgekehrt war (S. 140–141). Eines der ersten im nachnationalsozialistischen Deutschland veröffentlichten Zeugnisse über den Judenmord wurde am 10. August 1945 unter dem Titel Ofiary nikczemności [Opfer der Niedertracht] von Moses Chersztein abgeschlossen, einem Wilnaer Juden, der sich nach seiner Flucht aus dem Getto als Karäer namens Mieczysław Cherszteiński ausgab. Damit entging er der Judenverfolgung, aber 1942 deportierten ihn die Deutschen zur Zwangsarbeit nach Mannheim. Seine Informationen, unter anderem über die „Liquidationsorte der jüdischen Bevölkerung in Polen“ Bełżec und Treblinka, sammelte Chersztein im Frühjahr 1945 unter den Verschleppten im DP-Lager Mosbach. Moses Moskowitz, der Chef der Abteilung für Historische und Politische Information bei der Militär-Regierung Württemberg-Baden, sorgte dafür, dass die mit Fotos versehene Darstellung, aus dem Polnischen übersetzt, 1946 in Stuttgart als Geopfertes Volk. Der Untergang des polnischen Judentums erscheinen konnte (S. 152–153). Eine andere Broschüre der unmittelbaren Nachkriegsjahre steht für die Angst der Westdeutschen vor Übergriffen und vor der Rache der Anfang 1945 befreiten polnischen (und sowjetischen) Fremdarbeiter und Häftlinge. Sie schlug sich in dem 1949 von Philipp Schaefer publizierten Heimatgeschichtsbuch Halterner Schreckenstage nieder, wo von „plündernden Horden“ und „betrunkenen polnischen Mordgesellen“ die Rede ist (S. 198–199). Stimmungen und Befürchtungen dieser Art waren auch anderswo im Westen Deutschlands verbreitet, wo sich DP-Lager in der Nachbarschaft befanden.
Als Beispiel einer gelungenen Zusammenarbeit verschiedener Stellen mit Leihgebern im In- und Ausland wurde die Ausstellung von Zeitzeugen mitgestaltet, die den Kuratoren von Erlebnissen berichteten und Ausstellungsstücke selbst zur Verfügung stellten. Mitgewirkt hat auch die Porta Polonica, eine beim Bochumer Industriemuseum angesiedelte und vom Bund finanzierte Dokumentationsstelle zur Geschichte und Kultur der Polen in Deutschland. Hervorragend bebildert, mit wissenschaftlichen Beiträgen, Erinnerungen von Zeitzeugen und anschaulichen Geschichten zu wichtigen Erinnerungsstücken versehen, gibt das im Rahmen der Ausstellung entstandene Buch aufschlussreiche Einblicke in Alltag, Kunst und Kultur der polnischen DPs im Nachkriegsdeutschland.
Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn
Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich über: Zwischen Ungewissheit und Zuversicht. Kunst, Kultur und Alltag polnischer Displaced Persons in Deutschland 1945–1955. Begleitbuch zur Ausstellung. Hrsg. vom LWL-Industriemuseum und vom Westfälischen Landesmuseum für Industriekultur (Dietmar Osses). Essen: Klartext, 2016. 222 S., zahlr. Abb. ISBN: 978-3-8375-1686-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Friedrich_Osses_Zwischen_Ungewissheit_und_Zuversicht.html (Datum des Seitenbesuchs)
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