Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jörg Ganzenmüller

 

Stephan Lehnstaedt: Okkupation im Osten. Besatzeralltag in Warschau und Minsk 1939–1944. München: Oldenbourg, 2010. 381 S., 19 Abb., 6 Tab. = Studien zur Zeitgeschichte, 82. ISBN: 978-3-486-59592-5.

Während des Zweiten Weltkrieges dienten in Polen und in der Sowjetunion „ganz normale Deutsche“ als Besatzungspersonal. Die Wehrmachtssoldaten und die Angehörigen der Zivilverwaltung hatten keine spezifische Sozialisation erfahren, sondern stammten aus allen Schichten und Milieus der deutschen Gesellschaft. Dennoch gehörten Verbrechen und Gewalt zum Besatzungsalltag. Exzessives Trinken, Korruption, Raub und sexuelle Nötigung waren ebenso an der Tagesordnung wie persönliche Bereicherung auf Kosten der enteigneten Juden. Wohnungseinrichtungen und Pelze waren heiß begehrte Waren, die man entweder direkt von den entrechteten Besitzern raubte oder bei der Besatzungsverwaltung, die als Hehler des enteigneten jüdischen Eigentums fungierte, günstig erwarb. Die Deutschen brachen während ihres Einsatzes ‚im Osten‘ somit viele Normen, auf deren Einhaltung sie in ihrem zivilen Leben stets bedacht gewesen waren.

Stephan Lehnstaedt geht in seiner Münchner Dissertation der Frage nach, unter welchen Bedingungen diese „ganz normalen Deutschen“ zu Tätern wurden. Er erkennt in der Ausnahmesituation des Krieges das ausschlaggebende Element für die verbreitete Gewaltbereitschaft und weniger in der Weltanschauung. Lehnstaedt geht mit Max Weber davon aus, dass das individuelle Handeln vorwiegend durch die jeweilige Situation bestimmt wird. Gerieten Akteure in Verhältnisse, in denen sie sich unsicher fühlten, gäben sie ihren allgemeinen Referenzrahmen auf und suchten in der unterstellten Gruppennorm Orientierung. Lehnstaedt sieht im Krieg eine derartige Ausnahmesituation. Die Besatzergesellschaft habe zugleich mit ihren militärischen Normen einen neuen Referenzrahmen bereitgestellt, an der die Mehrheit des Besatzungspersonals ihr Handeln ausrichten konnte. Ein hoher Konformitätsdruck habe zudem dazu verleitet, sich dem Verhalten der Mehrheit anzupassen.

Diesen Konformitätsdruck zeichnet Lehnstaedt am Beispiel von Warschau und Minsk anschaulich nach. Ein wesentlicher Faktor war, dass die Besatzergesellschaft relativ klein war, da sich die Deutschen so weit wie möglich von der indigenen Stadtbevölkerung separierten: Ihnen standen eigene Geschäfte und Amüsierlokale zur Verfügung, und es gab sogar eine Straßenbahnlinie, die allein für deutsche Fahrgäste reserviert war. Zudem setzte sich der militärische Alltag auch nach Dienstschluss fort. Organisierte Freizeitveranstaltungen wie ein gemeinsamer Kinobesuch oder kameradschaftliche Trinkgelage ließen nur wenig Freiraum für individuelle Interessen. Wer die Unternehmungen der Kameraden mied, galt als Außenseiter und war schnell aus der Besatzergesellschaft ausgeschlossen. Die einzigen Möglichkeiten, sich dem Konformitätsdruck zu entziehen, waren die Flucht in den Alkohol oder Ausflüge in die als „Sündenpfuhl“ geltenden Viertel der Großstadt, wo der Schwarzmarkt blühte und billiger Alkohol sowie einheimische Frauen lockten.

Die außergewöhnliche Situation des Krieges und der Besatzungszeit trug ganz wesentlich dazu bei, dass sich die deutschen Soldaten und Zivilisten nicht nur dem Konformitätsdruck beugten, sondern auch die nationalsozialistischen Normen bereitwilliger akzeptierten, als sie es in ihrer vertrauten Umgebung getan hätten. Die Abkommandierung oder Versetzung aus dem Reich in den Osten ging mit einer gesellschaftlichen Desintegration einher. In Warschau oder in Minsk fand man sich in einer Besatzergesellschaft wieder, in der die eigene Position mangels Kontextbeziehungen unklar war. Die persönliche Stellung musste erst neu bestimmt werden, und nicht selten waren solche, die in der deutschen Gesellschaft wenig galten, als Soldaten in Warschau oder Minsk am oberen Ende der Gruppenhierarchie zu finden.

Die Konstituierung der deutschen Besatzergesellschaft nach innen ging mit einer scharfen Abgrenzung nach außen einher. Als Deutscher gehörte man zu den „Herrenmenschen“, während die Einheimischen als „Untermenschen“ galten, die zu Gehorsam und Unterwürfigkeit verpflichtet waren. Dieser Habitus stärkte in einer Phase der eigenen gesellschaftlichen Neuverortung das Selbstwertgefühl. Die Herabsetzung der Polen und Weißrussen kam für die Besatzer einer Nobilitierung gleich. Viele Deutsche traten als Herren im Osten auf und betrachteten die Einheimischen als Knechte. Die rassistischen Kategorien der Nationalsozialisten legitimierten diesen vermeintlichen sozialen Aufstieg, so dass allzu viele die rassistischen Kategorien des „Herren- und Untermenschentums“ bereitwillig internalisierten. Der Besatzerhabitus justierte das bisherige Normengerüst neu und bildete somit das Fundament einer weit verbreiteten Gewaltbereitschaft, die sich im Alltag Bahn brach. Der Willkür waren Tür und Tor geöffnet, da schon diejenigen bestraft werden konnten, die der Wehrmacht nicht die nötige Achtung entgegenbrachten. So misshandelte zum Beispiel ein deutscher Dolmetscher einen polnischen Straßenbahnschaffner, weil dieser ihn ohne Fahrschein erwischt hatte. Und der Stadtkommandant von Warschau hatte größte Mühe, den Wehrmachtsangehörigen klarzumachen, dass man mit den polnischen Ordnungskräften, die in deutschem Dienst standen, nicht nach Belieben umspringen könne.

Das Buch von Stephan Lehnstaedt bereichert die Forschung um eine Alltags- und Mentalitätsgeschichte der deutschen Besatzer. Die breite Quellenbasis und die Vielzahl der untersuchten Akteure sind starke Belege dafür, dass der Habitus des Herrenmenschen unter den Besatzern weit verbreitet war. Inwieweit die Bereitschaft, sich auf die rassistischen Kategorien der nationalsozialistischen Weltanschauung einzulassen, vorwiegend der spezifischen Situation geschuldet war, wird die Forschung weiterhin beschäftigen. Biographische Studien könnten Aufschluss darüber geben, in welchem Maße die Besatzer dieses Normengerüst bereits aus der Vorkriegszeit in die besetzten Gebiete mitbrachten.

Leider kommen die Einheimischen bei einer Konzentration auf die Gesellschaft der Besatzer nur schemenhaft in den Blick. Die Entscheidung für eine rein deutsche Perspektive hat zur Folge, dass Warschau und Minsk als Schauplätze des Geschehens kaum plastisch werden. Unterschiede zwischen den beiden Orten werden kaum sichtbar, und sie heben sich auch nicht von anderen besetzten Städten im östlichen Europa ab. Doch dieser Einwand lässt sich auch als ein Ergebnis der Untersuchung deuten: Die deutsche Besatzergesellschaft förderte offenbar überall im Osten die gleichen Mechanismen zu Tage, und der deutsche Alltag verlief unabhängig vom konkreten Ort weitgehend uniform.

Jörg Ganzenmüller, Jena

Zitierweise: Jörg Ganzenmüller über: Stephan Lehnstaedt: Okkupation im Osten. Besatzeralltag in Warschau und Minsk 1939–1944. München: Oldenbourg, 2010. 381 S., 19 Abb., 6 Tab. = Studien zur Zeitgeschichte, 82. ISBN: 978-3-486-59592-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Ganzenmueller_Lehnstaedt_Okkupation_im_Osten.html (Datum des Seitenbesuchs)

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