Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Zaur Gasimov

 

Bülent Bakar: Esir Şehrin Misafirleri Beyaz Ruslar [Die Gäste einer gefangenen Stadt: Die Weißen Russen]. İstanbul: Tarihçi Kitabevi, 2012. 436 S. ISBN: 978-605-4534-11-1.

Konstantinopelzurückzugewinnen“ und somit die Meeresengen um Istanbul unter die eigene Kontrolle zu bringen, gehörten zu den wichtigsten Aufgaben der zaristischen Außenpolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese Ambition wurde nicht zuletzt von Seiten der russischen Intellektuellen (vorwiegend der slavofily) und der konservativen Schriftsteller wie Fedor Dostoevskij aktiv unterstützt. Russische Maler, Dichter und Wissenschaftler besuchten die Stadt am Bosporus im Laufe des 19. und vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts besonders häufig. Nie war Russland so nah an seinem Ziel wie 1915, als die britischen und französischen Verbündeten Russlands ihre Gallipoli-Operation durchführten. Diese Militäraktion kam allerdings zum Scheitern: Trotz großer Verluste gelang den Entente-Mächten kein Durchbruch und dementsprechend blieb der Plan der russischen Eroberung Istanbuls nur ein Traum.

Infolge der russischen Revolution 1917 und der Bolschewisierung des Landes 1918 kam es zum Exodus von Hunderttausenden aus Russland. Istanbul wurde zum wichtigsten Aufnahme- und Zufluchtsort für russische Gegner der Bolševiki. Gerade diesem Thema widmete der türkische Historiker Bülent Bakar (Marmara-Universität) seine 2012 erschienene Monographie.

Im Fokus der Darstellung Bakars steht das Leben der russischen Migranten und Flüchtlinge in Istanbul unter der europäischen Besatzung vor allem in den Jahren 1919–1922 sowie in der frühkemalistischen Zeit. Die Monographie gliedert sich in sieben Kapitel. Nach einer kurzen Beschreibung der politischen Desintegrationsprozesse in Russland am Vorabend und während des Bürgerkrieges im ersten Kapitel stellt Bakar dann im weiteren Teil die Wohn- und Aufenthaltsorte der russischen Emigration in der Westtürkei dar. Neben den Istanbuler Stadtvierteln wie Pera und Galata (heute Beyoğlu) im europäischen sowie Moda (Kadıköy) im asiatischen Teil waren auch die Prinzeninseln bei Istanbul und vor allem Gallipoli (Gelibolu) zahlreich von den eingewanderten Russen bewohnt. Bakar beschreibt ihre Interaktion mit den lokalen Behörden, die russischen Bildungs- und Kultureinrichtungen. Im dritten Kapitel stellt Bakar die Hilfeleistungen der internationalen Organisationen wie des Roten Kreuzes und des Völkerbunds sowie der europäischen Konsulate in Istanbul an die russischen Flüchtlinge dar, die zum Großteil deutlich unter der Armutsgrenze lebten.

Mit einer besonderen Liebe zum Detail analysiert Bakar die spätosmanische Berichterstattung über die russischen Migranten, wobei er sowohl die wesentlichen Merkmale der Presseberichte darstellt als auch die Stereotype über die Russen in der türkischen Presse und weitere Aspekte. Die Monographie Bakars ist daher nicht nur um eine politische bzw. soziopolitische Geschichte des russischen Istanbul, sondern auch eine Kulturgeschichte der russischen Präsenz am Bosporus. So setzte sich der Autor beispielsweise mit dem russischen Einfluss auf die Istanbuler Mode und die Strandkultur in den frühen zwanziger Jahren auseinander (S. 180–184).

Bakars Dokumenten- und Quellenkorpus beruht vor allem auf dem Fundus der Archive Istanbuls und Ankaras sowie auf der Auswertung von mehr als zwanzig spätosmanischen Periodika. Das ist ein großer Verdienst der Publikation, die die Istanbuler russischen Diskurse vermutlich aufgrund fehlender Russischkenntnisse Bakars leider ausblendet. Daher analysiert Bakar nicht den Inhalt, sondern die Infrastruktur des russischen Lebens in Istanbul und die Reaktionen darauf in der türkischen Gesellschaft. Darin besteht wohl die einzige Schwachstelle der Monographie, die neben der erstmaligen Beleuchtung der spätosmanischen Berichterstattung über das russische Istanbul auch viele wertvolle Karikaturen und Zeitungsausschnitte sowie Fotoaufnahmen aus dem oben genannten Zeitraum beinhaltet und somit allen Russland- und Türkeihistorikern zu empfehlen ist.

Zaur Gasimov, Istanbul

Zitierweise: Zaur Gasimov über: Bülent Bakar: Esir Şehrin Misafirleri Beyaz Ruslar [Die Gäste einer gefangenen Stadt: Die Weißen Russen]. İstanbul: Tarihçi Kitabevi, 2012. 436 S. ISBN: 978-605-4534-11-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Gasimov_Bakar_Esir_Sehirin_Misafirleri_Beyaz_Ruslar.html (Datum des Seitenbesuchs)

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