Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Zaur Gasimov

 

Kåre Johan Mjør: Reformulating Russia. The Cultural and Intellectual Historio­graphy of Russian First-Wave Émigré Writers. Leiden: Brill, 2011, XII, 327 S. = Russian History and Culture, 7. ISBN: 978-90-04-19286-7.

Im Zuge des Ersten Weltkrieges, des daraus resultierenden Zusammenbruchs des Russischen Reiches und der Machtergreifung der Bolševiki flohen Tausende Russen nach Europa. In Prag, Paris, Berlin, Istanbul, Sofia und in vielen anderen europäischen Metropolen entstand das so genannte Auslandsrussland (Zarubežnaja Rossija), ein anderes, nichtbolschewistisches Russland, das von den nun zu Exilanten und politischen Emigrés gewordenen russischen Intellektuellen neudefiniert wurde. Der skandinavische Russlandforscher Kåre Johan Mjør (geb. 1973) nannte das eine „Reformulierung Russlands“. Diesem Phänomen der intellektuellen Auseinandersetzung mit Russland und seiner Geschichte unter den russischen Exilwissenschaftlern und Intellektuellen ist seine Monographie „Reformulating Russia. The Cultural and Intellectual Historiography of Russian First-Wave Émigré Writers“ gewidmet, die 2011 im Brill-Verlag in Leiden und Boston erschien.

Mjør setzt sich detailliert mit dem Phänomen des Emigré-Seins, den internen Auseinandersetzungen und der Identitätssuche der russischen Exilanten auseinander und greift dabei gelungenerweise die Ansätze Edward Saids auf. Im Bewusstsein der semantischen Unterschiede benutzt er Begriffe wie émigrés und exiles absichtlich als Synonyme (S. 29–30). Die vom Autor als Reformulierung Russlands beschriebene Debatte fand im Auslandsrussland in den zwanziger und dreißiger Jahres des vergangenen Jahrhunderts statt. Bei der Definition dieses Phänomens gliedert sich Mjør in die bereits bestehende Forschung (z. B. Claudia Weiss) zum russischen Exil ein, denn Russia Abroad war schon die Selbstbeschreibung der russischen Exilanten und ist bis heute ein gängiger Fachausdruck geblieben (S. 31). Schwierig erscheint allerdings die Übertragung des Nationalismus- und Nations-Ansatzes von Benedict Anderson (imagined communities) auf die russische Emigré-Community der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Die Debatten der russischen Exilanten werden somit als diejenigen einer „imaginierten Gemeinschaft“ dargestellt. Nicht berücksichtigt bleibt dabei die Tatsache, dass sich viele nichtrussische Intellektuelle, z. B. georgische und ukrainische Sozialdemokraten, aktiv an den Debatten des Auslandsrusslands beteiligten und hiervon ausgehend ihr integraler Teil waren.

Trotz mancher theoretischer Generalisierungen ist die Monographie Mjørs ein hervorragender Beitrag zum Studium der russischen Geistesgeschichte und Kulturtradition im europäischen, vor allem im westeuropäischen Kontext. Dem Autor ist es gelungen, die Interaktion der Größen der russischen Philosophie wie Nikolaj Berdjaev und von Religionsphilosophen wie Georgij Florovskij untereinander sowie mit den europäischen Zeitgenossen aufzuzeigen. Mjør widmete sich nicht einer generell aufgefassten Studie zum russischen Exil, sondern setzte sich mit der exilrussischen Darstellung der russischen Geschichte auseinander. Der Autor hat die Originaltexte Florovskijs, Berdjaevs, Zenkovskij, Fedotovs u.a. sowie die zahlreiche russische und westliche Sekundärliteratur zur russischen Philosophie ausgewertet. Besonders hervorzuheben ist die Tatsache, dass Mjør auch die deutschsprachige Russlandforschung zur Kenntnis genommen hat.

Zaur Gasimov, Istanbul

Zitierweise: Zaur Gasimov über: Kåre Johan Mjør: Reformulating Russia. The Cultural and Intellectual Historio­graphy of Russian First-Wave Émigré Writers. Leiden: Brill, 2011, XII, 327 S. = Russian History and Culture, 7. ISBN: 978-90-04-19286-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Gasimov_Mjor_Reformulating_Russia.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2014 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Zaur Gasimov. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.