Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Klaus Gestwa

 

Asif A. Siddiqi: The Red Rockets’ Glare. Spaceflight and the Soviet Imagination, 1857–1957. Cambridge, New York [usw.]: Cambridge University Press, 2010. XIII, 402 S., 35 Abb., 3 Tab. = Cambridge Centennial of Flight. ISBN: 978-0-521-89760-0.

Der Autor hat sich schon in zwei großen, ausgezeichneten Monographien und zahlreichen Aufsätzen eingehend mit der Geschichte der sowjetischen Raumfahrt beschäftigt. Nach intensiven und aufwendigen Archiv- und Literaturstudien liegt nun sein neuestes Werk vor. Darin stellt er auf  knapp 400 Seiten die Geburt des kosmischen Enthusiasmus, der Raumfahrtidee und der Raketentechnik in den größeren Kontext der russischen und sowjetischen Geschichte. Der Sputnik als „intersection of ideology, state invention, and technology“ (S. 1) war bei weitem kein Glücksfall, der sich eher zufällig aus einer günstigen historischen Konstellation ergab; die sowjetischen Weltraumerfolge hatten ihre Vorgeschichte in der zunehmenden Begeisterung für die Eroberung des Himmels, die schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in der russischen Kultur zu beobachten gewesen war. Siddiqi geht es um historische Tiefenschärfe, gesellschaftliche Breitenwirkung und internationale Vernetzungen, deren Analyse in vielen thematisch einschlägigen Publikationen fehlt. Seine Betrachtungen fügen sich in den Kontext anderer neuerer Forschungen ein, die das Jahr 1917 nicht mehr als Wasserscheide zweier grundverschiedener Epochen und politischer Systeme sehen, sondern den längerfristigen Aufstieg der industriellen Hochmoderne in den Blick nehmen und damit aufschlussreiche Kontinuitäten zwischen spätzarischer und frühsowjetischer Geschichte thematisieren.

Mit seinen Ausführungen geht es Siddiqi um ein „bridging imagination with engineering“. Er sieht Technik und Kultur, Raumfahrt und Gesellschaft in einem Wechselverhältnis gegenseitiger Motivation und Inspiration miteinander verbunden. Die Lande- und Startplätze des kosmischen Denkens befanden sich stets im irdischen Dickicht sozialer Wandlungen und politischer Konflikte. Diese Erdung macht die Raumfahrt zu einem aufschlussreichen Prisma für eine Gesellschafts- und Zeitanalyse.

Ehrgeiziges Ziel Siddiqis ist das „reframing” der sowjetischen Raumfahrtgeschichte. Explizit wendet er sich gegen die gebräuchlichen Narrative, die von russischen und sowjetischen Historikern und Publizisten in ermüdender Eintönigkeit fortgeschrieben werden und auch Eingang in westliche Publikationen gefunden haben. Vehement argumentiert Siddiqi gegen die hagiographische Darstellung, die den Fokus vornehmlich auf Konstantin Ciolkovskij als den „Patriarchen der russischen Kosmonautik“ und auf Sergej Korolev als den „Vater der sowjetischen Raumfahrt“ richtet. So wichtig diese beiden Leitfiguren als Inspiratoren und Organisatoren auch gewesen waren, neben ihnen gab es zahlreiche andere Akteure, die bedeutende Beiträge dafür leisteten, dass die Sowjetunion bei der Eroberung des Kosmos technologische Höchstleistungen und bemerkenswerte Propagandaerfolge erzielte. Unter anderem geht Siddiqi auf die heute kaum mehr bekannten, in ihrer Zeit aber einflussreichen, weil vielgelesenen Wissenschafts- und Technikpublizisten, Nikolaj Rynin und Jakov Perel’man ein. Beide wirkten vor und nach der Oktoberrevolution entscheidend daran mit, eine „spaceflight mentalité“ zu schaffen.

Überzeugend legt Siddiqi dar, dass der Aufstieg der sowjetischen Kosmonautik nicht als die einfache Geschichte der Zusammenarbeit des technikbegeisterten Parteistaates mit enthusiastischen Forschern erzählt werden kann. Er sieht die stürmische Entwicklung der sowjetischen Raketentechnik und Raumfahrt vielmehr als „outcome of both large-scale state imperatives to harness science and technology and populist phenomena that frequently owed little to the whims and needs of the state apparatus.“ (S. 8) An anderer Stelle bezeichnet er die sowjetische Kosmonautik, weil sie von einer großen Resonanz und einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wurde, sogar als „science from below“. Diese Formulierung macht zwar pointiert deutlich, dass die Raumfahrt nicht allein politisch verordnet und wissenschaftlich vorbereitet, sondern gleichfalls sozial konstruiert und kulturell vermittelt wurde; sie suggeriert aber auch eine aktive Partizipation der „Massen“ an den Forschungs- und Entwicklungsprozessen, die es trotz des unbestritten großen Interesses nicht gegeben hat. Zudem werden so die Initiativen „from above“ in ihren oftmals entscheidenden katalysatorischen Wirkungen nicht angemessen gewichtet.

Breite Zustimmung wird Siddiqi hingegen für seine These finden, die Raumfahrtgeschichte sei ein aussagekräftiges Beispiel dafür, dass es in der Sowjetunion zu einer leidenschaftlichen Liebesaffäre von Macht und Technik gekommen sei. Die Sowjetmacht legitimierte sich nicht allein durch die sozialistische Ideologie, sondern im gleichen Maß durch den unbeirrten Glauben an die segensreiche Kraft des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Aeronautische Höchst- und Pionierleistungen vermitteln in Form einer demonstrativen Modernität die Zuversicht, mittels moderner Wissenschaft und Technik die Gesellschaft umgestalten und der Welt im buchstäblichen Sinn ein neues Antlitz geben zu können. Mit diesem Zukunftsoptimismus stellte die Raumfahrt eines der wichtigen Themen dar, bei denen sich die Erwartungen und Hoffnungen von Regime und Bevölkerung überschnitten. Der große Aufwand, den Politik und Öffentlichkeit anlässlich der 50jährigen Jubiläen der sowjetischen Raumfahrttriumphe 2007 und 2011 betrieben haben, zeugt davon, dass auch heute Sputnik und Gagarin noch ungebrochen positive Ankerpunkte im kollektiven Gedächtnis bilden. Sie stehen für die technologische Schokoladenseite der Sowjetgeschichte. Während in den USA auf dem Höhepunkt der Raumfahrteuphorie nach der ersten Mondlandung nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung das Apollo-Programm uneingeschränkt befürwortete, hatte in der Sowjetunion trotz vereinzelter Unmutsäußerungen der kosmische Enthusiasmus die Bevölkerung viel stärker durchdrungen.

Siddiqis Buch erklärt anschaulich, warum dem so war. Es fordert dazu auf, verstärkt die Interaktionen der Wissenschaftler nicht nur mit der Führung in Armee und Staat, sondern auch mit den Medienmachern und der breiten Öffentlichkeit zu erforschen. Detailreich schildert Siddiqi in den letzten beiden Kapiteln, wie die Insider des militärisch-industriell-akademischen Atomraketenkomplexes an bekannte Wissenschaftspublizisten herantraten, um diese als Multiplikatoren für ihre Raumfahrtvisionen zu benutzen. In den damals heißbegehrten und auflagestarken populärwissenschaftlichen Zeitschriften und Schriftenreihen erschienen immer mehr Beiträge über das bald anbrechende kosmische Zeitalter. Die Parteiführer konnten sich daher kaum mehr dem Drängen der Raketenspezialisten verschließen, mit der neuen Interkontinentalrakete R-7 zuerst einen Satelliten und sodann Hunde und Menschen in den erdnahen Orbit zu schießen.

Deutlich arbeitet Siddiqi heraus, dass die Führung von Militär, Partei und Staat anfänglich nur wenig Interesse an der Entwicklung von Fernlenkwaffen hatte. Sie musste immer wieder neu davon überzeugt werden, dass die Raketentechnik und die Raumfahrt vor dem Hintergrund der unversöhnlichen Rivalität des Kalten Krieges zu zentralen außenpolitischen Machtmitteln aufstiegen. Sie galten zunehmend als Index von Fortschritt und Größe. Der kosmische Enthusiasmus setzte sich erst mittels eines Propagandakrieges durch, bei dem es nicht nur um das Ringen mit dem weltpolitischen Gegner auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, sondern auch um den Kampf um Aufmerksamkeit im eigenen Land ging. Der Kosmos wurde deshalb mit einprägsamen politischen und kulturellen Botschaften aufgeladen, so dass sich in der Tauwetterperiode die Raumfahrt zu dem Projekt entwickelte, das wie kein anderes die Utopie des Kommunismus, den Heroismus des neuen Menschen und die Ikonographie der Sowjetmacht zum Ausdruck brachte.

Mit großem Nachdruck schreibt Siddiqi dagegen an, den Aufstieg der sowjetischen Raumfahrt allein aus den Dynamiken und Entwicklungskräften der Sowjetgesellschaft heraus zu erklären. Sicherlich war der Sputnik ein erfolgreiches sowjetisches Großprojekt, dessen Realisierung sowjetische Wissenschaftlern, Techniker und Amtsträger in Militär und Partei ermöglichten. Aber die moderne Raumfahrt war, wie Siddiqi an mehreren Beispielen darlegt, ein transnationales Vorhaben, das stark durch grenzüberschreitende Einfluss- und Bezugnahmen geprägt war. Ohne es explizit zu thematisieren, erörtert Siddiqi entscheidende Sachverhalte seines Buches aus verflechtungshistorischer Perspektive und fügt sich damit in die Forschungsdebatten ein, die gegenwärtig unter den Labeln „entangled history“ und „geteilte Geschichte“ geführt werden. So standen Jules Vernes Mondreiseromane Pate, als gegen Ende des 19. Jahrhunderts im zarischen Russland die Science-Fiction-Literatur erste Popularität gewann und so die Beschleunigungs-, Steigerungs- und Expansionsmodi der industriellen Hochmoderne den gesellschaftlichen Resonanzboden für die Raumfahrt­idee schufen. In den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts organisierten sich die Raketenenthusiasten in ihren jeweiligen Ländern in interplanetarischen Raum­fahrtvereinen. Diese vernetzten sich untereinander und ließen eine kosmonautische Internationale entstehen. Nach 1945 erhielt die sowjetische Raketentechnik wichtige Schubkraft durch einen nachahmenden Technologietransfer. Als Form intellektueller Reparationen eigneten sich die sowjetischen Konstrukteure schnell das Wissen der deutschen Raketenspezialisten an und verliehen damit ihren eigenen Projekten neue Impulse.

Bei seinen Ausführungen zum letzten Aspekt profitiert Siddiqi von den Arbeiten, die Matthias Uhl, Christoph Mick und andere Historiker vorgelegt haben. Auch in anderen Kapiteln fasst Siddiqi den Forschungsstand kompetent zusammen; immer wieder bringt er allerdings auch neues Material in seine Darstellung ein und eröffnet damit weiterführende Ansichten. Der Wert dieses Buches liegt vor allem darin, mit veränderten Perspektiven die Anfänge der russischen und sowjetischen Raumfahrt in einer faszinierenden Gesamtschau darzustellen, die in vielerlei Hinsicht anschlussfähig an laufende Forschungen jenseits der Raumfahrt- und Technikgeschichte ist und bei der Lektüre immer wieder zum Nachdenken anregt.

Wer sich mit der Geschichte der sowjetischen Raumfahrt eingehend auseinandersetzen will, kommt an Asif A. Siddiqi nicht vorbei. Das gilt nach diesem, seinem neuesten Werk umso mehr.

Klaus Gestwa, Tübingen

Zitierweise: Klaus Gestwa über: The Red Rockets’ Glare. Spaceflight and the Soviet Imagination, 1857–1957, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Gestwa_Siddiqi_Red_Rockets_Glare.html (Datum des Seitenbesuchs)

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