Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Lutz Häfner

 

Narodničestvo i narodničeskie partii v istorii Rossii v XX veke. Biobibliografičeskij spravočnik. Sost. Michail I. Leonov / Konstantin N. Morozov / Aleksej Ju. Suslov. Moskva: Novyj chronograf, 2016. 544 S. ISBN: 978-5-94881-313-4.

„Im Westen nichts Neues“? Mit Blick auf Neuerscheinungen zum Thema der Parteien des neonarodničestvo entbehrt dieses geflügelte Wort nicht einer gewissen Berechtigung. Die vaterländische Geschichte hat in Russland in den zurückliegenden Jahren eine Vielzahl bemerkenswerter Publikationen vorgelegt, von Monographien über Quelleneditionen und Sammelbände bis hin zu zahllosen Artikeln. Die vorliegende Publikation beschreitet schon in konzeptioneller Hinsicht Neuland, weil sie verschiedene unerlässliche Bereiche amalgamiert.

Was leistet dieses Nachschlagewerk? Es ist erstens eine Bibliographie der Zeitungen und Zeitschriften aller neopopulistischen Parteien, die von ihrer Gründung bis in die späten fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts erschienen sind. Es listet zweitens die einschlägigen Bestände zu den Parteien und führenden Exponenten des neonarodničestvo in Archiven der Russländischen Föderation auf. Drittens enthält es eine Auflistung von Werken neopopulistischer Autoren, die der Geschichte ihrer Organisationen gewidmet sind. Viertens präsentiert es eine Auflistung des umfangreichen in Russland und im Ausland publizierten Schrifttums. Und schließlich, fünftes, enthält es wichtige Angaben über die Historiker, die mit ihren Werken unser Bild von den neonarodniki nachhaltig geprägt haben. Die Bibliographie listet eine Vielzahl von Aufsatzartikeln auf, die in Städten der russischen Provinz publiziert worden sind und deren Existenz sich selbst der Kenntnis der Spezialisten entzogen haben dürften.

Gerade für nichtrussische Historiker dürften die Kurzbiographien der Historiker und Historikerinnen, die sich mit dem neonarodničestvo beschäftigt haben, neue Horizonte erschließen. Neben den rein biographischen Daten, der Laufbahn und den wichtigsten Publikationen präsentieren die Herausgeber auch Angaben über die wissenschaftlichen Betreuer und erlauben damit Rückschlüsse auf Loyalitäten, Netzwerke und Forschungstraditionen. Diese Informationen erlauben es, ihre Werke besser zu kontextualisieren.

Der Fleiß und die Leidenschaft der Herausgeber, auch der letzten noch zu einer der Parteien des neonarodničestvo erschienenen Rezension nachzuspüren, sind stupend. Hier ist größtes Lob zu zollen. Und doch bleibt ein Wermutstropfen, der letztlich der Publikationsform geschuldet ist. In einer sich schnell verändernden Forschungslandschaft ist eine Publikation, die zugleich auch eine Bibliographie ist, bestenfalls eine Momentaufnahme, die mit ihrem Erscheinen schon wieder zwar nicht veraltet, aber zumindest doch in Details überholt ist. Obwohl dieser spravočnik nach Vollkommenheit strebt, ist er doch von Menschen gemacht und damit nicht frei von Fehlern insofern, als nicht alle Titel erfasst sind – und dies gilt keineswegs nur für die im vergangenen Jahr in St. Petersburg veröffentliche vorzügliche Biographie Viktor Černovs aus der Feder des finnischen Historikers Hannu Immonen (Hannu Immonen: Mečty o novoj Rossii. Viktor Černov (1873– 1952. S.-Peterburg 2015. = Ėpocha voin i revoljucij, 8), sondern auch für andere geschichtswissenschaftliche Untersuchungen (Jörg Baberowski: Das Handwerk des Tötens. Boris Sawinkow und der russische Terrorismus, in: Comparativ: Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und Vergleichenden Gesellschaftsforschung 23 [2013], 2, S. 75–90; Tobias Grill: Isaak Nachman Steinberg: „Als ich Volkskommissar war“ oder „Eine soziale Revolution, die die Rechte ihrer Klassengegner verteidigt – das wäre eine große moralische Lehre der Menschlichkeit gewesen!“, in: Nordost-Archiv 23 [2014], S. 141–167; Lutz Häfner: „Genossen“? Sozialismuskonzeption und politische Praxis der Partei der Sozialrevolutionäre Russlands und ihr Verhältnis zur SPD 1902–1914, in: Archiv für Sozialgeschichte 53 [2013], S. 67–91; Hannu Immonen: Auf der Suche nach der ideologischen und organisatorischen Identität: Die Trudoviki von der ersten Duma bis zu ihrem ersten Parteitag im Jahre 1906, in: Acta Societatis Historiae Finlandiae Septentrionalis / Faravid: Pohjois-Suomen Historiallisen Yhdistyksen Vuosikirja 10 [1986], S. 259–276; Hendrik Wallat: Oktoberrevolution oder Bolschewismus: Studien zu Leben und Werk von Isaak N. Steinberg. Münster 2013) ebenso wie für bereits zeitgenössisch publizierte Beiträge von Exponenten der neopopulistischen Parteien beispielsweise in deutscher Übersetzung. (Wladimir Sensinow [Zenzinov]: Der geschichtliche Sinn der russischen Märzrevolution, in: Sozialistische Monatshefte 64 [1927], 3, S. 173–177; Viktor Tscher­now [Černov]: Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands und ihre Stellung in der Agrarrevolution, in: Sozialistische Monatshefte 64 [1927], 3, S. 176–183; Viktor Tschernow [Čer­nov]: Das Bauerntum im Programm der sozialrevolutionären Partei Russlands, in: Sozialistische Monatshefte 64 [1927], 1, S. 32–38).

Möglicherweise wäre – und dabei orientiere ich mich an der bereits bestehenden Internetressource http://socialist-revolutionist.ru/ – eine internationale Internetplattform, ein Blog, zu den Parteien des neonarodničestvo eine zukunftsträchtige und richtungweisende Plattform, die größere Aktualität zu leisten vermag. So hat beispielsweise die englische Historikern Sarah Badcock soeben einen Aufsatz über Vladimir Michajlovič Zenzinov abgeschlossen, der im Oktoberheft 2016 in der Zeitschrift The Journal of Russian History and Historiography erschienen ist.

In der Bibel heißt es: „Wer suchet, der findet.“ Ein Haar in der Suppe zu finden, ist also nicht schwierig. Ich hingegen möchte nochmals den unbestreitbaren Wert dieses hochwillkommenen Nachschlagewerks unterstreichen. Mit Erich Kästner gesprochen, lautet das Fazit: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“

Lutz Häfner, Bielefeld/Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Narodničestvo i narodničeskie partii v istorii Rossii v XX veke. Biobibliografičeskij spravočnik. Sost. Michail I. Leonov, Konstantin N. Morozov i Aleksej Ju. Suslov. Moskva: Novyj chronograf, 2016. 544 S. ISBN: 978-5-94881-313-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Haefner_Leonov_Narodnicestvo.html (Datum des Seitenbesuchs)

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