Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2011, 1

Verfasst von: Imke Hansen

 

Shared History – Divided Memory. Jews and Others in Soviet-Occupied Poland 1939–1941. Edited by Elazar Barkan, Elisabeth A. Cole and Kai Struve. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2007. 390 S., Kte. = Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur, 5. ISBN: 978-3-86583-240-5.

Die Ereignisse in den sowjetisch besetzten polnischen Ostgebieten (1939–1941) und ihre Interpretation waren Gegenstand einer kontroversen geschichtswissenschaftlichen Debatte der letzten Dekade, die noch einmal die Unterschiedlichkeit historischer Narrative in aller Deutlichkeit zum Vorschein brachte. Im Zentrum der Debatte steht das Verhalten der polnischen, belarussischen, ukrainischen und litauischen Bevölkerung gegenüber ihren jüdischen Nachbarn, stehen vor allem Akte antisemitischer Gewalt, die von der lokalen Bevölkerung ausgingen. Scheinbar legitimiert haben manche Diskursteilnehmer dieses Verhalten mit dem Argument, die jüdische Bevölkerung habe eine besondere Affinität zu Kommunismus und sowjetischer Besetzungsmacht gehabt und damit das Vaterland verraten.

Mit dem Ziel, die Abgründe zwischen diesen Narrativen zu überbrücken, organisierte das Simon-Dubnow-Institut in Zusammenarbeit mit dem Institute for Historical Justice and Reconciliation und dem Carnegie Council of Ethics in International Affairs zwei Konferenzen (2003 und 2005), deren Produkt der vorliegende Sammelband ist.

Die klare Verortung in der durch Jan Gross’ Buch „Nachbarn“ ausgelösten Debatte gibt bereits die zentralen Fragen vor, um die es auch in dem vorliegenden Band geht: Was war die Grundlage der antijüdischen Gewalt in den besetzten Gebieten und wer waren die Täter? Inwiefern können antijüdische Aktionen der lokalen Bevölkerung als ‚Reaktion‘ auf eine reale oder angenommene Bereitschaft der Juden, sich der sowjetischen Politik anzupassen und anzudienen, verstanden werden? Und damit: Waren die Juden der Einführung der sowjetischen Ordnung deutlich zugewandter als andere Bevölkerungsgruppen?

Der Band verbleibt aber nicht im polnisch-jüdischen Erinnerungsstreit, was angesichts der demographischen Situation des untersuchten Gebiets auch zu kurz greifen würde, sondern nimmt interethnische Beziehungen insgesamt in den Blick. Obwohl direkte Vergleiche in den Beiträgen eine eher untergeordnete Rolle spielen, eröffnet die breite Erfassung der Region und ihrer nationalen Minderheiten die Möglichkeit, Wurzeln und Funktionsmechanismen von Konflikten und Gewalt zwischen ethnischen Gruppen zu identifizieren. Der Schwerpunkt des Bandes liegt allerdings klar auf dem Verhältnis zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Bevölkerungsgruppen.

So war das bereits vor dem Zweiten Weltkrieg verbreitete Stereotyp Żydokomuna, die Verschmelzung von Juden und Kommunismus, nicht nur in Polen ausschlaggebend dafür, dass sich die Meinung durchgesetzt hat, die jüdische Minderheit habe die sowjetischen Besatzer 1939 quasi geschlossen mit Freuden begrüßt und anschließend entscheidende Rollen im Machtapparat eingenommen, die die Verfolgung der lokalen nicht-jüdischen Bevölkerung einschlossen. Die Auffassung, die jüdischen Nachbarn hätten die Nation verraten, und gleichzeitig die Legitimierung antijüdischer Aktionen durch die skizzierte Argumentation, ist in mehrheitlich ukrainisch und litauisch bewohnten Gebieten genauso zu erkennen. Die meisten Autorinnen und Autoren sind sich einig, dass das Verhältnis der Juden zu ihren Nachbarn, ob diese nun ethnische Belarussen, Litauer, Polen oder Ukrainer waren, maßgeblich von der den Juden zugeschriebenen Haltung zur sowjetischen Besetzungsmacht abhängig war. Dabei wird kritisch hinterfragt, inwiefern diese Zuschreibungen in der Realität gründeten. Am deutlichsten wird hier Alexander Brakel aus Mainz, der für die von ihm untersuchte Region Ba­ranowicze/Baranoviči konstatiert, dass weder die Zusammensetzung des sowjetischen Machtapparats noch dessen Politik den Nexus zwischen Juden und sowjetischen Besatzern rechtfertigten, wie es viele Einwohner, vor allem ethnische Polen, behaupteten.

Der Brester Historiker Evgenij Rozenblat konstatiert in seiner Analyse interethnischer Beziehungen in West-Belarus, dass das jeweilige Verhalten der anderen Gruppe auf der Basis alter Stereotype interpretiert wurde. Die Zerstörung traditioneller Hierarchien unter sowjetischer Herrschaft, die beispielsweise für die Polen einen Kulturschock bedeutete, habe diese Stereotype, besonders den Antisemitismus, noch verstärkt, so Rozenblat. Mehrere Autoren beziehen darüber hinaus auch mögliche materielle Gründe antisemitischer Gewalt in ihre Überlegungen mit ein. Auch die Rolle der Deutschen gerät in den Regionalstudien nicht aus dem Blickfeld.

Hinsichtlich des Verhaltens der jüdischen Bevölkerung zeigen die Texte einerseits Gründe für eine potentiell positivere Haltung der jüdischen Bevölkerung gegenüber den sowjetischen Besatzern auf. Andererseits argumentieren sie, dass eine prosowjetische Einstellung und eine feindliche Gesinnung den eigenen Nachbarn gegenüber bei der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung keineswegs nachgewiesen werden kann. Es wird gezeigt, dass letztere ebenfalls und in einem nicht geringen Ausmaß von stalinistischen Repressionsmaßnahmen und Deportationen betroffen war und dass zu den lokalen Versammlungen zur freudigen Begrüßung der einmarschierenden Roten Armee keineswegs ausschließlich Jüdinnen und Juden strömten.

Dies geschieht in quellengesättigten, kritischen Analysen zu drei Schwerpunkten, die den Band gleichzeitig strukturieren: Erinnerung und Historiographie, sowjetische Herrschaft und Pogrome. Eine qualitative Ausnahme bildet der mit wenigen und vor allem selbstreferentiellen Verweisen versehene Beitrag des Warschauer Historikers Marek Wierzbicki über polnisch-jüdische Beziehungen im Gebiet der „Kresy“, der zwar an mehreren Stellen die Stützung seiner Argumente durch zahlreiche Quellen behauptet, aber nicht eine einzige Quelle anführt. Nicht nur hinsichtlich der wissenschaftlichen Qualität fällt Wierzbickis Aufsatz aus dem Rahmen des Sammelbandes. Auch ist er der einzige, der die antijüdischen Gewaltakte der ethnischen Polen legitimiert, den Nexus zwischen Juden und sowjetischen Machthabern konstatiert und ein national-polnisches, heroisches Geschichtsbild vertritt, welches in fast allen anderen Beiträgen kritisch hinterfragt und durch zahlreiche Forschungsergebnisse und (angegebene) Quellen herausgefordert wird.

Durch die Untersuchung verschiedener historischer Narrative (u a. auch mittels historiographiegeschichtlicher, rezeptionsgeschichtlicher und biographischer Ansätze) und deren Rückführung auf heroische, nationalistische Geschichtsbilder einerseits und auf mit diesen eng in Verbindung stehende Opferkonkurrenzen andererseits zeigen die Beiträge nicht nur die Wurzeln der Narrative auf, sondern auch deren Aktualität. Durch die Konfrontation teilweise unvereinbarer Geschichtsbilder einerseits miteinander und andererseits mit quellengestützten Forschungsergebnissen leistet der Sammelband einen entscheidenden Beitrag zur Dekonstruktion von Mythen und zu einer kritischeren Betrachtung der Geschichte. Damit stützt er die Stimmen in den heutigen Ländern des Berichtsgebiets, die für einen kritischeren Umgang mit der eigenen Geschichte plädieren. Darüber hinaus stellt er eine weitere Studie zum engen Nexus von Nationalismus, Antisemitismus und Xenophobie und deren stärkstem Motor, den Stereotypen, dar. Nicht zuletzt illustriert der Band den Sprung, den die Wissenschaft bei der Erforschung der komplexen Ereignisse der sowjetischen Okkupation östlich des Bug gemacht hat.

Imke Hansen, Hamburg

Zitierweise: Imke Hansen über: Shared History – Divided Memory. Jews and Others in Soviet-Occupied Poland 1939–1941. Edited by Elazar Barkan, Elisabeth A. Cole and Kai Struve. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2007. 390 S., Kte. = Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur, 5. ISBN: 978-3-86583-240-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hansen_Shared_History_Divided_Memory.html (Datum des Seitenbesuchs)

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