Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reivews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Hans Hecker

 

Istorija i istoriki. Istoriografičeskij vestnik. 2008. Otv. red. A. N. Sacharov. Moskva: Grif i K, 2010. 425 S. ISBN: 978-5-8125-1583-6.

Istorija i istoriki. Istoriografičeskij vestnik. 2009–2010. Otv. red. A. N. Sacharov. Moskva: Nauka, 2012. 367 S. ISBN: 978-5-8055-0239-3.

Inhaltsverzeichnisse:

http://www.iriran.ru/?q=history2008

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Der 43. Jahrgang (2008) sowie der in einem Band zusammengefasste 44. und 45. Jahrgang (2009–2010) weisen einige Veränderungen in den – niemals völlig gleich gestalteten – Bänden auf. Sie betreffen das Redaktionskollegium, wobei die entscheidenden Positionen des Herausgebers und des verantwortlichen Sekretärs das Akademiemitglied A. N. Sacharov und L. A. Sidorova behalten haben. Im zweiten Band findet sich, was zu begrüßen ist, auch erstmals ein Verzeichnis der Autoren mit Angabe der Titel und Positionen. Schließlich ist bereits im Band 2008 jedem Beitrag ein äußerst knapper Hinweis auf dessen Inhalt – eigentlich nur eine Paraphrasierung der Überschrift – mit Schlüsselbegriffen vorangestellt; dass er nicht nur in Russisch, sondern auch in Englisch dasteht, wird als Signal an die außerrussische Welt gemeint sein. Allerdings wird die außerrussische Forschung zur russischen Geschichte bis auf wenige Ausnahmen nach wie vor mit Nichtbeachtung bedacht.

Zum Band 2008: Der erste Teil ist dem „Jubiläum des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg“ gewidmet. In ihrem Überblick zur sowjetischen Historiographie des ersten Nachkriegsjahrzehnts über den deutsch-sowjetischen Krieg setzt L. A. Sidorova sich mit der seinerzeit von Marschall K. E. Vorošilov vorgegebenen Periodisierung des Kriegsverlaufs auseinander; dabei weist sie auf die Diskussion hin, in der später vor allem die euphemistische Charakterisierung der ersten, überaus verlustreichen Phase (vom deutschen Angriff bis zur deutschen Niederlage in Stalingrad) als „aktive Verteidigung“ kritisiert wurde. Immerhin, so meint sie, sei als positives Ergebnis das viele Material zu bewerten, das die Historiker der Stalinzeit gesammelt hätten und das man später habe verwenden können. Die politisch-seelischen Wechselbäder, denen die russischen Emigranten im Vorfeld und während des Krieges ausgesetzt waren, zeichnet M. G. Van­dal­kov­skaja nach.

Der üblicherweise umfangreichste Teil versammelt unter dem Titel Allgemeine Probleme der Geschichtswissenschaft Beiträge unterschiedlichster Thematik. M. I. ŽichZum Problem der sozial-politischen Struktur der galizischen und volynischen Lande in der vormongolischen Zeit – arbeitet sich an der einschlägigen Monographie von P. S. Stefanovič ab, und zwar, was mir besonders interessant erscheint, mit einem kritischen Plädoyer für mehr methodisch-theoretische Vielfalt und Innovation in der Historiographie zur Vaterländischen Geschichte, insbesondere auch zur altrussischen Geschichte. Eine nachdenkliche, die russische Literatur erfassende, von Lomonosov bis Stolypin reichende Betrachtung widmet S. V. Pronkin dem Verfassungsprojekt M. M. Speranskijs von 1809 anlässlich dessen 200-jährigen Jubiläums. Inhaltlich geht es um den spannungsreichen Zusammenhang zwischen dem natürlich-spontanen Nationalgefühl und dem reflektierten Nationalbewusstsein, zwischen Religion und Nation sowie zwischen russischer volksbezogener Tradition und westeuropäischen Einflüssen. Die Frage nach der nationalen Identität behandelt ebenfalls A.V. Buganov, und zwar in seinem Aufsatz zu deren Rolle in der russischen Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jh. sowie in seiner – im Schlussteil des Bandes platzierten – Rezension zu V. V. Trepavlovs 2007 erschienenen Buch über den Zaren und die ihm untertanen Völker (15.–18. Jahrhundert). Dass die Schulpolitik in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten des kaiserlichen Russland ausgesprochen aussichtsreich war, aber durch den Ersten Weltkrieg und die Oktoberrevolution um ihren Erfolg und von der sowjetischen Historiographie um ihre Bedeutung gebracht wurde, stellt I. V. Zubkov dar. Vom gleichen kritischen Tenor ist der Beitrag von L. G. Protasov über den Umgang mit den Wahlergebnissen zur Konstitutionellen Versammlung 1917 bestimmt. Mit dem Problem der Deportation sowjetischer Bürger unter Stalin und deren späterer Rehabilitierung greift N. F. Bugaj sein zentrales Thema erneut auf. Diesmal nimmt er die internationale Historiographie in den Blick, der er eine wesentliche Erweiterung der Kenntnisse von diesen Vorgängen zuschreibt. Die Probleme ethnisch-nationaler Gemeinschaften erörtert M. M. Mamaev am Beispiel der Russlanddeutschen im Nordkaukasus; in seinem vergleichenden Ausblick ins Ausland geht er nicht nur beispielsweise auf den deutschen Umgang mit den Roma ein, sondern hebt auch die Bedeutung der Beziehungen zwischen Russland und Deutschland für sein Thema hervor.

Der dritte Teil des Bandes gilt russischen Historikern und ihren Werken. Zunächst verfolgt V. G. Ananev die verschlungenen Wege zur wissenschaftlichen Edition der Russ­ländischen Geschichte V. N. Tatiščevs, die, während der dreißiger Jahre von A. N. And­reev im Hinblick auf den 250. Geburtstag des Verfassers am 29. April 1936 in Angriff genommen, dreißig Jahre später erschien – ein lehrreiches Stück sowjetischer Wissenschaftsgeschichte. Um das  alte Thema Russland und der Westen geht es in dem Beitrag über Schlözer und Russland von V. A. Kireeva sowie in V. Ju. Dobrovolskijs Untersuchung zu Čaadaevs weltgeschichtlicher Verortung Russlands in einer vom Christentum getragenen, unauflösbaren Verbindung mit dem Westen. Weitere Themen sind die antinormannistische Konzeption S. A. Gedeonovs, der 1878 mit 62 Jahren starb (D. G. Ditjatkin), die „historiosophischen“ Betrachtungen des Philosophen V. S. Solovev zum Schisma von 1054, das die Einheit der christlichen Kirche auflöste (I. V. Lo­ba­nova), sowie die organisatorische und wissenschaftliche Tätigkeit des jungen Ethnografen, Juristen und Historikers P. P. Čubinskij im Gerichtswesen in der Zeit der Großen Reformen (L. I. Zemcov). V. V. Tichonov nimmt den 130. Geburtstag A. I. Jako­vlevs (1878–1951) zum Anlass, diesen Schüler V. O. Ključevskijs und Vertreter der „Moskauer Schule“ einem größeren Leserkreis bekannt zu machen. Dazu dient auch die Publikation der Briefe, die sein Historikerkollege M. K. Ljubavskij 1934–1936 aus seinem Verbannungsort Ufa an ihn schrieb. Eine ausführliche Würdigung widmet M. B. Šejn­feld dem bekannten sowjetischen Historiker Michail Jakovlevič Gefter (1918–1995), einem maßgeblichen Autor der zehnbändigen Weltgeschichte.

Die Geschichtswissenschaft der russischen Emigration wird am Beispiel der Analysen zur sowjetischen Innen- und Wirtschaftspolitik vorgestellt, die der liberale Politiker und Historiker P. N. Miljukov in der Zeitschrift Poslednie novosti während der zwanziger Jahre veröffentlichte (M. O. Golovin). Umfassende Forschungen zu Staat, Gesellschaft und Kirche Russlands zu fördern, hatte, wie O. V. Budnickij schildert, B. A. Bachmetev (1880–1980) seiner Stiftung zur Aufgabe gemacht, die er 1936 in den USA gründete. Er finanzierte Wissenschaftler, Institute, Zeitschriften und Projekte, sein Erbe von einer halben Million Dollar erhielt die Columbia University.

Den Abschluss dieses Bandes bildet eine Auseinandersetzung V. L. Černoperovs mit einem Buch, in dem der Autor A. V. Golubev mit vielfältigen Quellen und Methoden einen Eindruck von der Sicht der sowjetischen Bevölkerung auf die übrige Welt zu vermitteln versucht.

Zum Band 2009–2010: Die drei Aufsätze des ersten Teils gelten dem 300. Geburtstag des russischen Universalgelehrten Michail Vasilevič Lomonosov. Eine aktuelle Würdigung findet man nicht, die hat man dem emigrierten, liberalen Miljukov mit seiner Rede vor der Sorbonne von 1935 überlassen, worin er die Reformkraft des bedeutenden Mannes betont. Die beiden anderen Beiträge schildern die Feier des 200. Geburtstages Lomonosovs in der Moskauer Universität (A. V. Sidorov) im Jahre 1911 und Lomonosov als Historiker (V. V. Fomin).

Auch wenn die Hälfte der sechs Beiträge zu den Allgemeinen Problemen der Geschichtswissenschaft den Blick auf das Ausland richtet, steht stets die russische Historiographie im Vordergrund. Das Interesse gilt dem Vergleich mit Russland – so in A. N. Kožanovskijs Aufsatz über die „nationale Frage“ in Spanien – oder dem Verhältnis zu Russland: Hier bilanziert O. V. Bolšakova ihre Analyse der „neuen Konzeption der Geschichte Russlands in der amerikanischen Historiographie“, diese sei nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende der ideologischen Gegnerschaft von ihrer „binären“ Betrachtungsweise – z.B. „Staat/Gesellschaft“ – abgekommen und zu differenzierteren Erkenntnissen gelangt; die weitere Entwicklung lasse sich aber noch nicht einschätzen. Weitestgehend aufgrund russischer Literatur geht Ju. N. Emeljanov den Vermutungen und Theorien über die Frage nach, ob und inwieweit „deutsches Gold“ den Bolschewiki zu ihrem revolutionären Erfolg verholfen habe. Zur historischen Selbstbetrachtung gehören die Aufsätze über die während des Zweiten Weltkriegs und danach im Lichte der Theorien N. I. Marrs entstandenen sowjetischen Arbeiten zur Ethnogenese der Slaven (M. Ju. Do­s­tal), über die ideologisch inspirierten Debatten um die historische Bewertung Peters des Großen (V. V. Tichonov) sowie der aktuelle Bericht über die Neueinschätzung der Kosaken in den Geschichtsbüchern für den höheren und akademischen Unterricht (N. F. Bugaj).

Im Zentrum der Rubrik Geschichtswissenschaft der russischen Emigration steht wieder P. N. Miljukov. M. G. Vandalkovskaja arbeitet seine nationale und europäische Gesinnung sowie seine Haltung gegenüber Russland heraus, die der T. G. Masaryks ähnlich war, und in einem teilbiographischen Überblick stellt M. O. Golovnja ihn als Herausgeber der tonangebenden Zeitschrift Poslednie Novosti (1921–1940) vor. Der Rechtshistoriker S. Ja. Gagen hingegen erinnert an den Versuch des Kulturhistorikers Evgenij Vasilevič Spektorskij (1875–1951), in seinem Buch Christentum und Kultur (Prag 1925) modernes Rechtsdenken vom Rechtsbewusstsein des „historischen Jesus“ her zu entwickeln.

In der Abteilung Historiker und ihre Werke geht es bei D. G. Ditjatkin um den vielseitigen Kulturpolitiker Stepan Aleksandrovič Gedeonov (1815 oder 1816–1878) und seine Befassung mit den Warägern und bei V. G. Ananev um das theoretische und organisatorische Wirken des Leningrader Byzantinisten, Kulturtheoretikers und Museologen Fedor Ivanovič Šmit, der, 1933 inhaftiert, 1937 dem Stalinterror zum Opfer fiel.

Im Rezensionsteil diskutiert A. N. Sacharov ausführlich das 2011 in Moskau herausgekommene Buch, in dem V. R. Medinskij die Mythen der UdSSR über den Zweiten Weltkrieg behandelt. Dabei kommt es ihm auf zwei Punkte an: auf das Verhältnis zwischen subjektiven „Wahrheiten“ und auf Fakten beruhender „Wahrheit“ sowie auf diesen Krieg als Kampf des gesamten Volkes, auch in seiner fortdauernden historischen Dimension. Darauf folgen Überlegungen A. Ju. Polunovs zu einem Buch von M. D. Dolbilov über das spannungsreiche Verhältnis zwischen dem multiethnischen Imperium, nationalen Ansprüchen und religiöser Bindung am Beispiel des litauischen und weißrussischen Nordwestens des Zarenreiches.

Ausführliche Würdigungen erfahren Pavel Nikolaevič Zyrjanov (1943–2007), der vor allem mit Arbeiten über Russland im 19. Jahrhundert und biographischen Porträts hervortrat (N. A. Ivanova), und der abchasische Historiker Zurab Vianorovič Ančabadze (1920–1984) mit seinen Forschungen zur kaukasischen Geschichte (A. Ė. Kuprava).

Kommentierte Quellenpublikationen zu russischen Stimmen, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts zu Menschen- und Freiheitsrechten öffentlich äußerten, sowie zu der Debatte über die Rolle der Zeitschrift Voprosy istorii nach dem XX. Parteikongress der KPdSU und zu Beginn des „Tauwetters“ schließen den Doppelband ab.

Fasst man diese vollständige Übersicht zusammen, so stehen hinter den sachlichen Themen zentrale Problemfelder wie Reform, Nation, Religion, Freiheit im Fokus des Blicks in den Spiegel, mit dem russische Historiker Kenntnisse über ihre Vergangenheit und Positionen dazu zu gewinnen suchen.

Hans Hecker, Düsseldorf/Köln

Zitierweise: Hans Hecker über: Istorija i istoriki. Istoriografičeskij vestnik. 2008. Otv. red. A. N. Sacharov. Moskva: Grif i K, 2010. 425 S. ISBN: 978-5-8125-1583-6. Istorija i istoriki. Istoriografičeskij vestnik. 2009–2010. Otv. red. A. N. Sacharov. Moskva: Nauka, 2012. 367 S. ISBN: 978-5-8055-0239-3., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hecker_SR_Istorija_i_istoriki_2008_2009_2010.html (Datum des Seitenbesuchs)

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